wahr
scheinlich
fabelhaft
Kulturlandsgemeinde 2016, Stein AR
In Stein gemeisselt?!
Überzeugende Geschichten und bestechende Wahrheiten. Mit Fakten belegt, glaubhaft erzählt, möglicherweise wahr, mit hoher Wahrscheinlichkeit erfunden, über jeden Zweifel erhaben. Statistiken und Interpretationen. Legenden und Inszenierungen. Mutmassungen und Zaubertricks. An welcher Wahrheit halten Sie fest? Welche Geschichte fasziniert Sie? Woran möchten Sie glauben?
Die Kulturlandsgemeinde 2016 lud ein zum gemeinsamen Nachdenken über Wahrheit, Dichtung und Lüge. Im und um das Mehrzweckgebäude in Stein AR untersuchte das Festival, wer für welche Wahrheiten einsteht, wie sie Glaubwürdigkeit erlangen und wo sie Wirkung entfalten. Die Kulturlandsgemeinde fragte, welche Spielräume Erzählungen eröffnen, wann die richtige Geschichte zählt und wie Legenden zu neuen Wahrheiten werden. Und Steine kamen ins Rollen: zwischen verschiedenen Schweizer Gemeinden mit dem Namen «Stein» und beim Steinstossen mit dem Frauenturnverein Stein AR. Während zwei Tagen tauschten sich Fachleute aus Kultur, Wissenschaft, Medien und Gesellschaft mit dem Publikum über Interessen und Verantwortungen von Wahrheitsautoritäten, Geschichtenerzähler:innen und Zauberkünstler:innen aus.
«Die Kulturlandsgemeinde verhalf mir immer wieder zu einzigartigen, speziellen, wunderbaren Begegnungen mit ‹furchtbar› interessanten, spannenden, kreativen, lieben und schwierigen Personen.»
Erinnerungen
Im Frühling 2016 tagt die Ausserrhoder Kulturlandsgemeinde in Stein. Im Dorf meiner Familie, meiner Kindheit. Ich bin eingeladen zu einem Podiumsgespräch über die verschiedenen Gemeinden mit dem Namen Stein, die es in unserem Land gibt. Mit einer Freundin aus Zürich, die angereist ist, um, wie sie sagt, zu «networken», drifte ich übers Gelände, erkläre ihr dies und das. An einem langen Tisch der Festwirtschaft sehe ich Alfred Stricker. Der, aus Stein und Regierungsrat, ist für mich simpel «der Alfred», der mit meinem zwei Jahre älteren Bruder in die Primarschule gegangen ist. Man kennt sich, ich sage «hoi» und setze mich mit der Zürcher Freundin neben ihn und sehe gleich, dass da noch ein weiterer Bekannter sitzt. Matthias Weishaupt. Der ist auch Regierungsrat, ist für mich aber simpel «der Matthias», ich kenne ihn von der Kanti Trogen, ich ging in dieselbe Klasse wie sein Bruder. «Hoi, Matthias, wie gehts?» So ist das in Ausserrhoden, ist man dort aufgewachsen, kennt man die halbe Regierung. Irgendwann wird mir dann klar, dass ich am offiziellen Tisch für geladene Gäste und Funktionäre Platz genommen habe, da ist auch ein bekannter Politiker aus der Romandie. Peinlich ist das nicht und auch kein Grund, den Tisch zu wechseln. In Ausserrhoden ist die Macht zugänglich und umgänglich. So soll es sein. Und meine Zürcher Freundin hat das heftig beeindruckt.
Die Kulturlandsgemeinde verhalf mir immer wieder zu einzigartigen, speziellen, wunderbaren Begegnungen mit «furchtbar» interessanten, spannenden, kreativen, lieben und schwierigen Personen. Sie brachte mich zum Glühen, zum Zusammenreissen und zum «einfach machen». Sie brachte mich zu einer schneereichen Überraschung in Teufen und zu vielen neuen Entdeckungen, die ich sonst nie gesehen, gehört und erlebt hätte. Die Kulturlandsgemeinde fordert. Im Ausblick wünsche ich mir eine weite Sicht, weniger Intellekt, mehr Fleisch, Salat, Hülsenfrüchte, Kooperationen und allgemein: immer wieder frisch, unkonventionell und bunt wie das Appenzellerland es ist.
Mitwirkende
Katalin Deér
Sherko Fatah
Frauenturnverein Stein AR
Katja Gentinetta
Markus Gsell
Juli Gudehus
Stefan Keller
Philipp Langenegger
Anne C. Martin
Emil Müller
René Näf
Marco Paniz
Martin Rutz
Miriam Sturzenegger
Jamil Tafazzolian
Sebastian Tobler
Werner van Gent
Petra Volpe
Michael von Graffenried
Pius Walker
Thomas Widmer
Janina Woods
Konzeptgruppe
Margrit Bürer
Heidi Eisenhut
Gisa Frank
Theres Inauen
Gallus Knechtle
Petra Schmidt
Hanspeter Spörri
Ueli Vogt
In drei Plattform-Gesprächen wurde über den Wunsch nach Klarheit, verschiedene Erzählperspektiven und den Umgang mit Geheimnissen und Lügengeschichten debattiert. Zum Auftakt der Gespräche zeigte der Neurologe und Zauberer Martin Rutz überraschende Zaubertricks. Werkstätten und eine Umfrage lud ein, Tatsachen zu schaffen, noch unbekannte Wirklichkeiten zu entdecken und vergangene Wahrheiten in Erinnerung zu rufen: Der Schauspieler Marco Paniz sammelte Kindheits-Wahrheiten, die Game Designer:innen Sebastian Tobler und Janina Woods gaben Einblicke in digitale Realitäten, der Schauspieler Philipp Langenegger führte durch das Appenzeller Volkskunde-Museum Stein, der Zauberer Jamil Tafazzolian führte in die Zauberkunst ein, der Radiästhet und Bauphysiker René Näf suchte zusammen mit den Besucher:innen verborgenen Schwingungen und der Gymnasiallehrer Emil Müller erhob eine Statistik zum Kulturlandsgemeinde-Publikum. Die Künstlerinnen Miriam Sturzenegger und Katalin Deér fragten in ihren künstlerischen Interventionen danach, wie sich Realität zusammensetzt. Am Samstagabend entführten die Walliser Geschichtenerzählerin Anne C. Martin und die Musiker Markus Bischof und Markus Gsell in eine Welt voller märchenhafter Erzählungen und berauschender Klänge.
Am Sonntagmorgen wurde auf die Erkenntnisse des ersten Festivaltags zurückgeblickt, die traditionelle Sendschrift wurde verlesen und der Fotograf Michael von Graffenried hielt die Sonntagsrede. Während die einen anschliessend die geheimnisvoll verdeckte Tafel vom Koch Gallus Knechtle erkundeten, wanderten andere mit dem Wanderkolumnisten Thomas Widmer rund um Stein AR.