19. Mai 2023, 12.46 Uhr

Ist das un­se­re neue Hei­mat?

Text:Jo Glaus

Hei­mat: Wir alle ken­nen und nut­zen die­sen Be­griff, doch gibt es eine wirk­li­che De­fi­ni­ti­on, eine all­ge­mei­ne Be­deu­tung zu die­sem in­di­vi­du­el­len Ge­fühl, das wir zu Hause sein nen­nen? Im­mer­wie­der kommt die Rede auf Hei­mat, wenn man sich von je­man­dem ver­ab­schie­det, um nach Hau­se­zu gehen, als Wer­bes­lo­gan für einen lo­ka­len Su­per­markt, in einer Dis­kus­si­on über Ein­wan­de­rung und so wei­ter. Die­ses Wort fällt einem schnell aus dem Munde, ob­wohl die we­nigs­ten sagen kön­nen, was Hei­mat wirk­lich für sie be­deu­tet. Es gibt kaum einen so un­de­fi­nier­ba­ren und viel­sei­ti­gen Be­griff, wie die­sen in der deut­schen Spra­che. "Hei­mat ist ein ver­min­tes Ge­län­de, ein kon­ta­mi­nier­tes Feld -in ihrem Namen wurde dis­kri­mi­niert und ge­mor­det, ge­schützt und ge­ret­tet." (Hei­mat -zwi­schen Für­sor­ge und Ver­bre­chen, 2017)Und doch hat die­ser Be­griff eine un­glaub­li­che Re­le­vanz er­langt im An­ge­sicht der zahl­rei­chen glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen, die uns zur­zeit be­vor­ste­hen. Das Ge­spräch­über Hei­mat ist längst über­fäl­lig. Vor allem in Kri­sen­si­tua­ti­o­nen, müs­sen wir auf die­ses Ge­fühl zu­rück­grei­fen, um uns vor einem Hei­mat­ver­lust zu be­wah­ren und ler­nen, wie wir es­prä­ser­vie­ren kön­nen, ohne dabei der­Xe­no­pho­bie zu ver­fal­len. Die Glo­ba­li­sie­rung hat eine Flut­wel­le neuer Mög­lich­kei­ten mit­ge­bracht und einen Teil der so­wohl ein­schrän­ken­den wie auch schüt­zen­den Bar­rie­ren mit­ge­schwemmt. Wie kann man in die­sem, sich ra­pi­de ent­wi­ckeln­den Zeit­al­ter Hei­mat fin­den? Wenn all diese Gren­zen neu ge­setzt wer­den müs­sen, und die Si­cher­heit nicht nur durch die Menge an ne­ga­ti­ven Nach­rich­ten, son­dern auch durch Reiz­über­flu­tung im In­ter­ne­tein­ge­schränkt wird, ist es schwie­rig ein Ge­fühl von Hei­mat zu er­lan­gen.

De­fi­ni­ti­on
Hei-mat, die
Be­deu­tun­gen:
-Land, Lan­des­teil oder Ort, in dem man ge­bo­renund auf­ge­wach­sen ist oder sich durch stän­di­gen Auf­ent­halt zu Hause fühlt (oft als ge­fühls­be­ton­ter Aus­druck enger Ver­bun­den­heit ge­gen­über einer be­stimm­ten Ge­gend)
-Ur­sprungs-, Her­kunfts­land eines Tiers, einer Pflan­ze, eines Er­zeug­nis­ses, einer Tech­nik

Das ist die De­fi­ni­ti­on, die man of­fi­zi­ell im Duden fin­det, und was wahr­schein­lich auch was dem Durch­schnitts­bür­ger durch den Kopf geht, wenn er an Hei­mat denkt. Sehen wir uns die Über­set­zung die­ses Be­grif­fes auf Eng­lisch oder Fran­zö­sisch an, wird er stark ver­ein­facht. So­wohl home als auch pa­trie sind viel ein­deu­ti­ge­re Wör­ter als un­se­re deut­sche Hei­mat. Auch in deren of­fi­zi­el­len Duden geht es bei die­sen Be­grif­fen eher um das Haus, in dem man wohnt, oder das Va­ter­land.Je­doch ist­Hei­ma­tein viel­fäl­ti­ger und wan­del­ba­rer Be­griff, der in un­se­rer Ge­schich­te schon gross ge­lobt und oft­miss­braucht wurde.Jeder hat eine an­de­re Ant­wort auf die Frage: Was be­deu­tet Hei­mat für dich? Dar­un­ter wie­der­ho­len sich Be­grif­fe wie das Va­ter­land, das El­tern­haus oder die Fa­mi­lie, ob man sich diese aus­ge­sucht hat, oder hin­ein­ge­bo­ren wurde. Doch auch Re­li­gi­on, Kul­tu­ren, Kunst und Essen kön­nen ein Hei­mat­ge­fühl her­vor­ru­fen. Eines haben all diese Ant­wor­ten ge­mein­sam, und dar­aus kön­nen wir un­se­ren ers­ten und wich­tigs­ten Schluss zie­hen.Hei­mat ist Bin­dung.

Es ist die Art von Bin­dung, die nur der Mensch zu einem Sub­jekt oder Ob­jekt auf­bau­en kann und die für ein Si­cher­heits-und Ge­bor­gen­heits­ge­fühl sorgt. Eine emo­ti­o­na­le Bin­dung er­stellt man au­to­ma­tisch zu einem Ob­jekt, das eine Kon­stan­te dar­stellt im ei­ge­nen Leben und da­durch eine viel tie­fe­re Be­deu­tung er­langt. Es ist die Bin­dung, die das Stoff­tier der Kind­heit zu einem fast schon un­ver­zicht­ba­ren Ge­fähr­ten mach­te, aber auch die Bin­dung, die man zu sei­nem Zim­mer und sei­nen Ka­me­ra­den­auf­baut. Was einst eine evo­lu­ti­o­näre Über­le­ben­s­tak­tik war, ist nun eine für uns nutz­ba­re Quel­le, um Be­hei­ma­tun­gen zu er­schaf­fen. ln an­thro­po­lo­gi­scher Hin­sicht zeigt die ge­schicht­li­che Cha­rak­te­ri­sie­rung des Hei­mat­be­griffs das Be­dürf­nis nach Raum­o­ri­en­tie­rung, ent­spre­chend einem Ter­ri­to­ri­um bei Tie­ren. Die­ses Si­cher­stel­len der Exis­tenz, führt also zu einem Bin­dungs­ge­fühl, wel­ches­wir be­wah­ren wol­len. Heute noch su­chen Men­schen ein ab­ge­si­cher­tes Leben. So kön­nen wir auch den nächs­ten Schluss zie­hen, Hei­mat kor­re­liert stark mit Si­cher­heit, sei dies auf der Ebene der Grund­be­dürf­nis­se, oder auf po­li­ti­scher und so­zi­a­ler Ebene.Die Ent­ste­hung von Hei­mat, be­ginnt be­reits in der Kind­heit. Von dem Mo­ment an, in dem man in die Welt hin­aus­ge­setzt wird, hält man sich an Ori­en­tie­rungs­punk­ten fest. Dazu zäh­len zum Bei­spiel die Fa­mi­lie, be­zie­hungs­wei­se die Men­schen, von denen man um­ge­ben ist, die Spra­che oder auch der Ort, an dem wir ge­bo­ren wur­den. ln die­sen Punk­ten kön­nen wir oft die uns am stärks­ten prä­gen­den Hei­mat­fak­to­ren wie­der­er­ken­nen. Bil­dung ist hier­bei eine wich­ti­ge Grund­la­ge, um auch die Kon­kre­ti­sie­rung die­ser ein­zel­nen Fak­to­ren durch die Ge­schich­te zu ver­ste­hen und ihre his­to­ri­sche Be­deu­tung zu er­ken­nen. Somit eig­nen wir uns in­di­vi­du­ell im Ver­lauf un­se­rer Ent­wick­lung, ge­prägt durch Um­welt, Bil­dung und Er­fah­run­gen eine Hei­mat an, Diese Bin­dun­gen wer­den unser Leben lang­wei­ter­ge­führt und aus­ge­baut. Es ist je­doch auch mög­lich, einen die­ser Be­zugs­punk­te zu ver­lie­ren. Hei­mat, die­ses Wort ist uns allen meist als po­si­ti­ver Be­griff be­kannt, doch ihn als sol­chen zu de­fi­nie­ren, würde von der Re­a­li­tät ab­wei­chen. lm Namen der Hei­mat wurde ge­mor­det und dis­kri­mi­niert. Oft wurde die­ser hoff­nungs­schwan­ge­re Be­griff zur Waffe um­funk­tio­niert. Es gibt kaum ein bit­ter­sü­ße­rer Be­griff als Hei­mat. Hei­mat funk­tio­niert in den Kampf­pa­ro­len von xe­no­pho­ben Rechts­po­pu­lis­ten ge­nau­so gut, wie auf der kit­schi­gen Tür Matte, die ein­lädt ein­zu­tre­ten. Hei­mat ist ein men­ta­ler Ge­schmacks­ver­stär­ker für frag­wür­dig bil­li­ge Le­bens­mit­tel, die ga­ran­tiert nicht aus eben die­sen öko­lo­gisch in­tak­ten Idyl­len­stam­men, die sie als Wer­be­bild be­nut­zen.Der Be­griff der Hei­mat ist ein wan­del­ba­rer Platz­hal­ter für Sehn­süch­te, die man nicht an­ders be­schrei­ben kann. Das macht eine all­ge­mein­gül­ti­ge De­fi­ni­ti­on schwie­rig. ln phi­lo­so­phi­scher Hin­sicht kann Be­hei­ma­tung auch als Pro­zess der Welta­n­eig­nung ver­stan­den wer­den, durch den der Mensch immer und über­all eine für ihn frem­de, un­wirt­li­che Welt in ein Zu­hau­se ver­wan­delt. So kann man die Hei­mat auch als ein Ar­beits­pro­zess ver­ste­hen."Man ist nicht nur Kind sei­ner Hei­mat, die Hei­mat wird einem auch zum Kind. Und so, wie man die­ses nicht nur hatund sich dar­aner­freut, trögt man auch die Ver­ant­wor­tung dafür. Wo Bin­dung ist, ist Ver­ant­wor­tung. (Karin Bran­dau­er, zi­tiert in Hei­mat 2020)Hei­mat ist also nicht nur unser Schutz und Be­zugs­ort, son­dern sie ist ver­wund­bar und soll­te aktiv auf­recht­er­hal­ten wer­den. Bin­dun­gen blei­ben nur dann stark, wenn man sie pflegt. Mensch­li­che Be­zie­hun­gen, das Füh­ren eines Haus­hal­tes, das Lesen einer Lek­tü­re,das Be­su­chen einer Kir­che, all diese Dinge müs­sen aus­ge­führt und ge­pflegt wer­den. Sie kön­nen dafür die Si­cher­heit und Ein­ge­bun­den­heit in diese Welt für uns auf­bau­en.

Die ein­zi­ge De­fi­ni­ti­on, die ich schlus­s­end­lich all­ge­mein hin­stel­len kann, ist, dass Hei­mat eine Be­gleit­er­schei­nung einer star­ken Bin­dung ist, die eine Ge­bor­gen­heit und ein Si­cher­heits­ge­fühl aus­löst. Zu wel­chem Be­zugs­punkt diese Bin­dung be­steht, ist nicht re­le­vant.

Was löst das Ge­spräch über Hei­mat aus?
Warum spricht man so sel­ten über Hei­mat?
Sich Fra­gen dar­über zu stel­len, was die per­sön­li­che Be­deu­tung die­ses Be­grif­fes ist, kann der ei­ge­nen Psy­che ein star­kes Ge­rüst ver­lei­hen. Bei einem Um­bruch in einer Bio­gra­fie, wel­cher durch gros­se per­sön­li­che Er­schüt­te­run­gen auf­tre­ten kann, ent­fal­tet diese Selbst­be­fra­gung eine prak­ti­sche Be­deu­tung. Hier­bei bricht eine fun­da­men­ta­le Zu­ge­hö­rig­keit un­wie­der­bring­lich weg. ln sol­chen Si­tua­ti­o­nen er­weist es sich als hilf­reich, wenn man sich sei­nen ver­schie­de­nen Be­hei­ma­tun­gen ex­pli­zit be­wusst wird. Hei­mat kann sich näm­lich auf den ver­schie­dens­ten Ebe­nen zei­gen. Wenn man sich diese ver­ge­gen­wär­tigt, gibt man dem Ge­fühl der Hei­mat­lo­sig­keit we­ni­ger Macht. So ge­lingt einem zu­neh­mend die Re­la­ti­vie­rung der Ver­lu­stängs­te oder des Ver­lus­tes. Wenn man diese nicht immer of­fen­sicht­lich be­glei­ten­den Quel­len be­wusst be­trach­tet, er­öff­net sich eine neue, phi­lo­so­phi­sche Le­bens­wei­se.Lei­der wird eben die­ses Ge­spräch zu sel­ten ge­führt und so blei­ben die ver­schie­de­nen Aspek­te der Hei­mat un­sicht­bar. Vor allem jetzt, wo uns welt­wei­te Kri­sen ge­gen­über­ste­hen, sowie die Glo­ba­li­sie­rung in Ver­bun­den­heit mit der Ver­brei­tung des In­ter­nets, ver­su­chen sich die Men­schen ab­zu­schot­ten und zu­rück­zu­keh­ren in das Be­kann­te. Die Angst vor dem Ver­lust der Si­cher­heit und­der Zu­ge­hö­rig­keit ver­brei­tet sich ra­sant. Genau dies führt zur Bil­dung von klei­ne­ren ex­tre­men Grup­pen, die durch po­li­ti­sche, so­zi­a­le oder auch an­de­re Fak­to­ren ver­bun­den sind. So zer­bricht un­se­re Welt in op­po­nie­ren­de Frag­men­te, die ge­gen­ein­an­der ar­bei­ten.Die­ses Phä­no­men kann man in Ame­ri­ka an­schau­lich be­trach­ten. Die li­be­ra­len und kon­ser­va­ti­ven Mei­nungs­bil­der kon­kur­ren­zie­ren mit­ein­an­der. Oft wird schon eine po­li­ti­sche Hal­tung mit in die Wiege ge­legt. Kin­der aus die­sen Haus­hal­ten wach­sen mit gros­sem Miss­trau­en ge­gen­über der op­po­nie­ren­den Seite auf. Die Tren­nung der Be­völ­ke­rung auf­grund die­ser zwei Merk­ma­len ist in den USA mar­kant und mit viel Hass ver­bun­den. Wie Pin­gu­i­ne auf aus­ein­an­der­bre­chen­den Eis­schol­len rü­cken wir näher zu­sam­men, an­ge­sichts der dro­hen­den Auf­lö­sung bis­lang be­kann­ter und si­cher­heits­ge­ben­der Gren­zen. Diese Trans­for­ma­ti­on, die wir durch­lau­fen in der Mo­der­ne, dem In­ter­net Zeit­al­ter, be­ein­flusst die bis­he­ri­ge Wahr­neh­mung von Hei­mat auf allen Ebe­nen. Vie­len fällt es schwer sich den ra­san­ten Ver­än­de­run­gen an­zu­pas­sen und ihr Si­cher­heits­ge­fühl zu ga­ran­tie­ren. Somit ste­hen sie vor einem Hei­mat­ver­lust, mit dem sie nicht um­ge­hen kön­nen. Al­lein schon durch das Be­wusst­sein dar­über, warum ein Mensch in sol­che Mus­ter der klein­ka­rier­ten Tren­nun­gen ver­fällt, würde es bes­ser ge­lin­gen eine Ge­mein­schaft zu bil­den, die über eine Fa­mi­lie oder gar ein Dorf hin­aus­geht. Man kann sich dem Auf­bau einer neuen Hei­mat zu­wen­den, auf einer Ebene, die einem zu die­sem Zeit­punkt zu­gäng­lich ist. Es er­öff­net die Mög­lich­keit sich über­all eine Hei­mat zu schaf­fen, aus­ge­nom­men von Orten mit präg­nant ein­schrän­ken­den, ex­ter­nen Fak­to­ren. Mar­tin Hei­deg­ger be­schreibt die­ses Phä­no­men als ein an die Welt ver­fal­len sein. So pas­siert eine stän­di­ge Be­we­gung vom Un­zu­hau­se sein weg, in die sinn­ge­deu­te­te und da­durch leb­ba­re Welt, das Zu­hau­se. Es ist die Flucht vor der be­ängs­ti­gen­den Wahr­heit, ins nichts der Welt hin­aus­ge­setzt zu sein, was unser Ur­zu­stand be­schreibt. So be­ginnt man sich zum Selbst­schutz zu ob­jek­ti­vie­ren; er be­schreibt es als ein ans man ver­fal­len. Es ist ein­fach, einen Satz aus­zu­spre­chen, der mit einem man als Sub­jekt funk­tio­niert. Es nimmt uns je­doch, die Ver­ant­wor­tung, die jeder für sein ei­ge­nes Leben trägt. Denn nur du kannst und musst dein Leben leben, diese Auf­ga­be kann dir nie­mand ab­neh­men.

Wir be­nut­zen das man also, um die­ser­Je­mei­nig­keit­zu ent­flie­hen. Es ist ein­fa­cher als sich wirk­lich mit dem Un­zu­hau­se, wie auch dem Zu­hau­se sein aus­ein­an­der­zu­set­zen.Doch auch wenn das er­schre­cken­de Be­wusst­sein die­ser Fak­to­ren, die das Leben dik­tie­ren, erst zu einer Über­for­de­rung führt und einem Raus­wurf aus der von uns leb­bar ge­mach­ten Welt, dem Zu­hau­se, er­öff­net einem die­ser Ein­blick in das Un­sicht­ba­re eine ganz neue Form von Hei­matei­ne Form, die we­ni­ger ge­müt­lich ist, doch der ab­so­lu­ten Wahr­heit un­se­rer Welt nä­her­kommt und somit in jeder Le­bens­la­ge ein Zu­hau­se dar­stel­len kann, so­bald man sie er­kannt und ge­lernt hat mit ihr um­zu­ge­hen und sie zu schät­zen.