








Wir sind alle gleich anders
Text: Julia Kubik
Der Körper ist eine Schicksalsheimat. Warum tut sich die Gesellschaft so schwer damit, verschiedene Körper(-bilder) zu akzeptieren? Was heisst Arbeit am Körper in einer Leistungsgesellschaft? Wie verändert die Mode unser Verhältnis zum Körper? Und wie geht man damit um, wenn die körperliche Heimat zerfällt?
Der Samstag ist der dichteste Kulturlandsgemeindetag: immer ist überall etwas los. Kurz nachdem die leeren Teller und das grossartige Mittagsbuffet abgeräumt wurden, beginnt die Zweite Plattform. Thema: Heimat als Körper und Hülle.
Moderatorin Corinne Riedener spricht mit den Gästen Fabienne Luna Egli, Christoph Keller, Jana Sophie Roost und Ly-Ling Vilaysane. Eine sehr vielseitige Runde. Egli ist Grafikerin, Illustratorin und Kurzfilmanimatorin. Ihre transgeschlechtlichkeit und eine Autismus-Spektrumsstörung haben sie in ihrem Leben dazu gezwungen, sich mit Körper und Psyche intensiv auseinanderzusetzen. Keller ist Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, unter anderem «Ich hätte das Land gern flach», «Der beste Tänzer» und «Der Boden unter den Füssen». Er hat die Krankheit spinale Muskelatrophie, bei der sich die Muskeln zunehmend abbauen, und ist deswegen auf einen Rollstuhl angewiesen. Roost schrieb vor kurzem ihre Maturaarbeit zum Thema «Bulimie und Magersucht im Leistungssport». Dabei zeigte sie die Zusammenhänge zwischen dem Verlauf von Essstörungen und körperlichem Leistungsvermögen auf. Vilaysane führt eine Modeboutique in St.Gallen und setzt sich in ihrem Alltag viel mit den Körperwahrnehmungen(ob reale oder gewünschte) ihrer Kund*innen auseinander. Ihr Credo: man muss sich in seinen Kleidern wohlfühlen.
Die Einstiegsfrage lautet: „Was braucht ihr, um euch wohl und zuhause zu fühlen?“
„Bei mir gehören Körper und Geist sehr eng zusammen. Nähre ich den Geist angemessen, geht es meistens auch dem Körper gut“, lautet Eglis Antwort. Jana sagt, sie fühlt sich am wohlsten, wenn sie von Freund:innen und Familie umgeben ist. Keller meint, am besten sei ausgeschlafen sein, mit dem Hund rollen gehen und ein gemütliches Nachmittags-Bier. Und Vilaysane antwortet schlicht: „wenn ich mich wohlfühle, fühle ich mich meistens auch zuhause.“
Thematisch geht es von aussen nach innen, also recht früh zum Thema Körper-Hülle, an-kleiden und ver-kleiden. Vilaysane erzählt, das viele ältere Frauen, die zu ihr ins Atelier kämen, ihr Fragen stellen wie: Darf man meine Knie und Ellbogen noch sehen? Oder sind sie zu schrumpelig, zu unschön geworden? Muss ich mich verhüllen? Können Sie mir die Ärmel verlängern, damit man nichts von meinen Armen sieht?
Natürlich würde sie die Wünsche ihrer Kundinnen bestmöglich umsetzen, aber manchmal wünschte sie sich auch, vorallem für diese Frauen selbst, sie hätten ein entspannteres Verhältnis zu ihrem Körper. „Ist doch normal, das sich der Körper im Alter verändert. Damit ist niemand allein. Jedesmal, wenn ich in Italien am Strand bin und sehe, wie cool und freizügig viele Frauen dort mit ihren alternden Körpern umgehen, wünschte ich mir, das wäre hier ein bisschen mehr so. Weil wer sich wohl fühlt, hat automatisch eine schöne Ausstrahlung.“
Egli: „Für mich hat Kleidung viel mit Kommunikation nach aussen zu tun. Also wenn ich z.b. ein Star Wars-Tshirt trage, dann will das auch sagen: ja, du darfst mich gerne auf Star Wars ansprechen. Ich bin dann ein bisschen wie eine Litfasssäule.“
Keller sagt zum Thema Kleidung über sich selbst, er sei „modisch eher unbegabt“ und fragt Visaysane um Rat, die aber nur antwortet, das er eh schon alles richtig mache, wenn er sich in seiner Kleidung wohlfühle.
Egli erzählt, das sie in ihrem Körper viel mehr zuhause ist, seit dieser operativ so angepasst wurde, wie sie sich innerlich schon immer fühlte. Und plädiert allgemein dafür, das streng binäre System und veraltete Körperlider und Rollenmuster abzuschaffen, da sie viel mehr Leid als gutes verursachen und den Schönheits-und Normierungsdruck erhöhen-auch bei Cis-Menschen. Sie sieht da aber leider derzeit einen gesellschaftlichen und politischen Backlash. Und ist in der Runde nicht allein mit dieser Sicht.
Roost sagt, das es ein Irrtum sei, das nur oder vorallem junge Frauen unter Essstörungen und verzerrter Selbstwahrnehmung leiden. Junge Männer hätten oft ein ebenso gestörtes Körperbild, nur geht es meistens in eine andere ästhetische Richtung: grosse, sichtbare Muskeln um (fast) egal welchen Preis.
Alle sind sich einig: normierte Schönheitsideale sind eigentlich komplett veralteter Quatsch. Aber trotz jüngeren medialen Bewegungen, wie #bodypositivity oder auch das etwas niedrigschwelligere #bodyneutrality, sind sie nicht leicht aus unseren Köpfen zu kriegen.
Keller vermutet hinter dem Schönheits,-und Selbstoptimierungsdruck eine grosse, uralte und allgemeine Angst vor dem fremd-sein und anders-sein. Man fühle sich vermeindlich vordergründig wohler wenn man nicht auffällt, sich anzupassen weiss. Aber er plädiert stark fürs anders-sein. „Das ist viel spannender!“
Überhaupt ist diese Gesprächsrunde insgesamt sehr wholesome: immer wieder findet man sich beim Punkt, das Körper nunmal sehr verschieden sind. Und wir das viel eher wertschätzen als problematisieren sollten. Oder, um Visaysane zu zitieren: „Wir sind alle gleich anders. Das ist ja das schöne.“
Zum Schluss fragt Riedener alle, was sie als Lebensmittel oder Menü gerne wären.
Weil: Heimat ist immer auch essen, wenn es um Körper geht sowieso.
Corinne Riedener: Suppe mit süssaurem Gemüse drin
Jana Sophie Roost: Raclette (Facettenreich, viele Kombinationsmöglichkeiten)
Christoph Keller: richtig guter, bunter Salat
Fabienne Luna Egli: Zweigänger: zuerst Pizza Hawaii, dann Himbeeren mit Vanilleglace
Ly-Ling Vilaysane: Maki-Sushirolle

Gruss in die Küche
Ein weiteres kulturelles Festival-Highlight war das Buffet. Herzlichen Dank an Luzia und ihr Team, die uns kulinarisch rund um die Welt durch zwölf Länder mitnamen, von Litauischen Kartoffeln über den berühmten Badi Speck-Käsekuchen bis zu peruanischem Linsensalat. Es war sehr gut.


Wir sollten aufhören mit einem Heimatbegriff, der ausgrenzend ist
Text: Jo Glaus
Mögen Sie Ihren Namen? Haben Sie das Gefühl, Sie würden sich in einem anderen Vornamen stärker zu Hause fühlen? Was für einen Einfluss hat die Sprache auf Bindungsmöglichkeiten, welchen die Musik? Was verbindet, was zerteilt und wie kommen wir zueinander zurück?
Solche und weitere Fragen wurden bei der Plattform 1 «Heimat als Gefühl und Identität» mit Yvonne Apiyo Brändle-Amolo, Matthias Weishaupt, Hoseyn A. Zadeh und Peter Surber behandelt.
Den Namen zu mögen, ist schwierig, wenn niemand ihn richtig aussprechen kann. (Lektüren-Tipp: Das Kinderbuch «Chrysanthemum») Er läuft einem voraus, das Kulturgut herausschreiend. Man kann ihm nicht ausweichen. Darum ist es wichtig sich darin wohl und heimisch zu fühlen.
Alle Beteiligten der Diskussion tragen mehrere Namen. Die von Kindern verpatze Version und Abgekürzten Mittelnamen, der alte Pfadiname «Kaa» nach der Schlange aus dem Dschungelbuch, und die vielen verschiedenen, aus den unterschiedlichen kulturellen Heimaten.
Yvonne ist aus Liebe in die Schweiz gekommen und aus Liebe in der Schweiz geblieben. Trotz allen Hindernissen hat sie sich einen Weg gebahnt und ist Heute tätig als Gemeinderätin, interkulturelle Mediatorin und Kuratorin.
Was ihr das Leben in der Schweiz zu beginn erleichterte: Sie hat Jodeln gelernt. So konnte sie die Brücke zu der ihr fremden Kultur über ein vertrautes Medium schlagen und Ähnlichkeiten zwischen Schweizerischer und Kenianischer Kultur entdecken.
Im Stamm der Luo (nitolischsprachige Ethnie am Victoriasee) werden die Menschen mit verschiedenen bedeutungsstarken Namen benannt. Bei ihr ist einer davon Rosetta, nach der Rock n’ Roll Ikone, welche Grenzen überschritt und Barrieren niederschmetterte. Oder Yvonnes Liebling; Apiyo, die Pionierin, geerbt von ihrer Grossmutter.
Die Vielzahl der Namen hat auch eine praktische Relevanz, zum Beispiel bei der (polygamen) Partnersuche. Aus dem Namen kann man die familiären Verhältnisse lesen, um zu vermeiden sich mit Verwandten zu liieren.
Ist es auch bei uns so, dass man aus einem Namen viel heraus liest? Bevor man eine Person kennenlernet, gibt es schon eine erste Barriere, welche zu stereotypisierenden Schlussfolgerungen führen kann.
Bei einem Job-Interview hat Yvonne eine solche Erfahrung gemacht. Im Wartezimmer wurde sie mit Brändle, dem Nachnamen des Ex-Mannes aufgerufen und trotz aufgesteckter Hand nicht wahrgenommen, weil sie gemäss den Worten der Sekretärin «nicht wie eine Yvonne Brändle aussieht.»
Dieser (nicht so) subtile Alltagsrassismus ist keine Seltenheit. Viele Menschen haben leider die Tendenz, hart und schnell zu werten. Sind solche, in kleine Schubladen einsortierte Informationen, eigentlich gut fürs Gemüt?
Matthias Weisshaupt, ein Schweizer Ureinwohner und ehemaliger Ausserrhoder Regierungsrat, bekennt, dass das Appenzell keine spezifische Kultur pflegt, in welcher man anderen besonders offen begegnet. Es sei die Verantwortung der Politik, diese Bildungslücken zu schliessen und die Integration, wie auch die Beteiligung zu fördern. Die Tür zu einer anderen Kultur ist nicht einfach betretbar. Der Schlüssel liegt nicht in der Hand einer Einzelperson. «Wir sollen aufhören mit einem Heimatbegriff, der ausgrenzend ist»
Was könnten wir bewirken, wenn wir den Begriff der Heimat nicht mehr als politisierte Waffe nutzen, sondern als Basis, um alle Bürger*innen der Welt mit ihren Eigenheiten zu vereinen? Klar ist: Dazu braucht es Lückenschliesser*innen und Brückenbauer*innen.
Hoseyn A. Zadeh zeigt in einem typographischen Workshop, welcher schon an mehr als 30 internationalen und nationalen Ausstellungen stattfand und nun auch an der Kulturlandsgemeinde, eine neue Verbindungsmöglichkeit des persisch-arabischen mit dem lateinischen Alphabet.
Sprache schafft Heimat. Seine Flucht aus dem Iran und das Ankommen in der Schweiz waren geprägt von Verlust und Sehnsucht. Er erzählt von Strassen und Wänden, die er vermisst. Die aber gleichzeitig sowieo nicht mehr so existieren, wie er sich an sie erinnert. „Es gibt diese Stimmung dort nicht mehr, so wie ich sie kannte.“ Auch seine Freunde gehören nicht mehr in diese Strassen in Teheran, die er kannte und mochte. Sie haben sich verstreut. Trotzdem hat er zum Begriff Heimat eine positiven Einstellung.
«Eine richtige Heimat habe ich nicht. Es ist jedenfalls kein fixer Ort. Ich bin dort zuhause, wo meine Füsse auf dem Boden stehen»
Alle drei vereinen auf ihre Art Kulturen und Menschen. In der Politik, in der Musik, im Schreiben und im Daheimsein.
Heimatverlust
ln einer Studie von 2016 vom Stapferhaus Lenzburg zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der Befragten Personen fühlen, ihre Heimat sei bedroht. lmmer mehr Menschen folgen dieser Bewegung der Verlustangst, die aus relevanten und oft universellen Quellen stammen, wie der Klimawandel, politische Konflikte, Kriege, der Umgang mit der Globalisierung.
Historisch betrachtet, wurde das Thema schon oft durchgekaut. Schon immer gab es Kriegsflüchtige oder aus religiösen Gründen Vertriebene. Durch diese Migrationsströme wurden unzählige heimatlose Menschen in verschiedene Länder geschwemmt, die sich wiederum von der Anwesenheit dieser neuen Kulturen in ihrer Heimat und nationaler Identität bedroht fühlten. Dieses Phänomen verbreitet sich überall. Die daraus resultierenden Aktionen werden zum Beispiel durch die Modernisierungstheorie gerechtfertigt. So kann man die Schuld von sich weisen und das Problem auf die endogenen und zum Teil selbstverschuldeten Faktoren schieben.
Darum gibt es Organisationen wie Frontex; so stark ist das Bedürfnis ist, mit allen Mitteln die Grenzen geschlossen zu halten. Auch wenn man den Blick zu anderen Kontinenten wendet, erkennt man dieses Muster.
Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten gewann mit dem Versprechen, er wolle eine Mauer bauen, um die Immigration aufzuhalten. Dieser Trend zieht sich über Länder, in denen immer mehr konservative und sogar rechtspopulistische Kräfte gewinnen: Orban, der in Ungarn für zwei Jahre jegliche Migration verbieten wollte, Brasiliens Ausstieg aus dem UN-Migrationspakt unter der Leitung von Bolsonaro, Johnson der das Migrationssystem reformierte als Grossbritannien aus der EU austrat und noch viele mehr.
Die Angst vor Heimatverlust kann also, wenn sie in die falschen Hände gerät, als starke politische Waffe missbraucht werden. Ein Beispiel für diese Situation ist die Durchsetzung des Dublin Abkommens der EU im Bezug zur türkischen Regierung. Die Türkei solle, als eines der wichtigsten Transitländer, Flüchtlinge bei sich behalten, sodass sie bei einer Anfrage für Asyl in ein anderes europäisches Land zurückgeschickt werden können. lm Gegenzug dazu verlangen sie nebst Geld, auch Visafreiheit in der EU. Letzteres wurde jedoch nicht umgesetzt. So erhöhte sie den Druck, indem sie drohte die Grenzen zu öffnen. Menschen, die alles hinter sich gelassen und verloren haben werden also gegen Geld und politische Freiheiten getauscht.
Wenn sie es doch bis in die Schweiz schaffen, und wir diese Heimatlosen, nach einem komplizierten und langwierigen Prozess, über unsere Grenze lassen, erwarten wir eine vollkommene Assimilation von ihnen. Nur wenn sie ihre alte Identität, Kultur und somit den Rest ihrer Heimat loslassen, gewähren wir ihnen, sich niederzulassen. Meistens bedarf es zwei bis drei Generationen, um überhaupt wieder Wurzeln zu schlagen. Die meisten Länder haben eine mangelnde Fähigkeit, mit den Konsequenzen von Wanderungsbewegungen und den damit einhergehenden fremden sprachlichen, sozialen und kulturellen Elementen fertig zu werden.
Wenn sich die Gruppe der Menschen, die kulturell anders verortet sind, vergrössert, fühlt man sich fremd in der Eigenen Heimat, diese Gruppen teilen das Fremdfühlen ebenso, da sie sich nicht als angenommen empfinden. Hier entstehen Spannungen, die wir auch in aktuellen Themen, wie der Kopftuchdebatte, erkennen können. Aggressive Erscheinungen, wie "Gilets jaunes" (Gelbwesten) sind ebenso das Resultat solcher Entwicklungen, wie Angehörige verschiedener Religionen oder auch benachteiligte Kulturen, die sich nicht mehr verstanden fühlen und zu radikalen Gruppen werden.
Diese Heimatlosigkeit ereignet sich nicht nur auf der geographischen Ebene. Es kann auch einfach ein Verlust des Zugehörigkeitsgefühls sein. Das Tempo unserer digitalisierten Gesellschaft führt dazu, dass die Anzahl der betroffenen Menschen zunimmt.
Die Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen wollen, bleibt jedoch unbeantwortet. Um uns dieser anzunähern, müssen wir uns intensiv mit der Thematik des Heimatverlustes auseinandersetzen. Ein Anfang in diesem Prozess kann das Gespräch über Heimat und ähnlich relevanten Begriffen sein.
Das Einwanderungssystem und der Umgang mit Immigranten sind noch offene Baustellen, hinsichtlich der Schaffung einer neuen Heimat. Es gilt, aus dieser Vielfalt zu schöpfen und ihre Innovation geniessen.
Als gegenüberzusetzendes Beispiel: Kanada sieht Migration als Chance und versucht, das Zuwanderer-Potential maximal zu nutzen. Somit wird es zu einem bunten multikulturellen Land, das vielen Menschen eine Heimat bieten kann. Dass es als multikulturelles Einwandererland vorbildlich funktioniert, gibt uns eine neue Perspektive. So wird es möglich, ohne unüberwindbare externe Hürden überall eine Heimat zu schaffen.
Denn jeder Mensch hat ein Recht auf Heimat.

Alles hat ein Ende nur die Wurst hat einen Ring-Kanton
Liebe Leser:innen
Wären sie lieber eine kräftige Minestrone oder ein dekoratives Erdbeertörtli? Ein Bierfasskutschen-Kaltblüter oder ein Zirkus-Showpferd? Wären sie lieber für einen Monat komplett unsichtbar, oder in einem anderen Körper? Würden sie lieber arabisch oder finnisch schreiben und sprechen können? Hätten sie lieber den Schulstoff aus den ersten 15 Jahren immernoch sortiert und Griffbereit im Kopf, oder die Fähigkeit, einen Apfel einhändig zu halbieren? Haben sie mehr Interesse an HTML oder an Forstwirtschaft? Würden sie lieber einen Küstenabschnitt benennen oder einen jungen Stier? Wie geht es ihnen Heute?
Vorläufig verabschieden wir uns als Redaktion an dieser Stelle, denn die Kulturlandsgemeinde 2023 neigt sich dem Ende zu. Aber: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat einen Ring-Kanton. Und das Appenzell liegt genau in diesem Wurst-Ring. Und deshalb geht es vielleicht irgendwann doch wieder weiter mit uns. Auch und obwohl diese Metapher wirklich schief ist. Wir werden sehen! Bis dahin: Viel Spass mit der dritten Ausgabe von HEIP. (Diesesmal erst Recht unlektoriert. In der Fantasie ist jeder Fehler ein Trüffel und das Ganze ein edler Gratin.)
In diesem Sinne en Guete, Liebe Grüsse und Alles Gute, in allen möglichen Heimaten.
Julia Kubik, Redaktorin

Was schützt der Heimatschutz überhaupt?
Interview: Timo Züst
An der 113. Hauptversammlung des Ausserrhoder Heimatschut-zes wählten die Mitglieder eine neue Obfrau: Irene Hoch-reutener. Die Kunsthistorikerin ist seit 18 Jahren Teil des Vorstands – und nun auch Präsidentin. An der Kulturlandsgemeinde spricht sie über Baukultur. Und mit HEIP redet sie über Heimat-gefühle, Stammtisch-Kritik und die Herausforderungen der Verdichtung.
Frau Hochreutener, was ist eigentlich Heimat?
Eine philosophische Frage.
Kommt drauf an, wie man sie beantwortet.
Ich glaube, Heimat ist in erster Linie eine Empfindung. Zum 100-jährigen Jubiläum des Ausserrhoder Heimatschutzes im Jahr 2010 baten wir unsere Mitglieder um Fotos von ihrer «Heimat». Bekommen haben wir alles Mögliche: eine Katze auf einem Fenstersims, ein Kiosk, ein klassisches Appenzellerhaus, ein Kachelofen. Heimat im Sinne des Heimatschutzes beruht auf einem Konsens, betreffend einer identitätsstiftenden Kultur, einer Baukultur im Speziellen.
Was würden Sie fotografieren?
Aus meiner Optik als Obfrau des Heimatschutzes würde ich in eine Streusiedlung hinein fotografieren. Im Idealfall wäre auf dem Foto ein altes Appenzellerhaus und ein neues, das die traditionelle Bauweise aufgreift und neu interpretiert, zu sehen.
Damit hätten wir den ersten Teil des Wortes «Heimatschutz» kurz definiert. Was ist mit «Schutz»? Müssen wir unsere Heimat wirk-lich schützen?
Davon bin ich fest überzeugt.
Warum?
Ich spreche hier natürlich in erster Linie von der Baukultur. Da braucht es einen gewissen Schutz vor monetären und individualistischen Motiven. Gäbe es keinen Schutz, würden wir unsere Landschaften nach und nach verlieren.
Ursprünglich war der Heimatschutz auch als Naturschutz-organisation gegründet worden. Spielt das noch eine Rolle?
Natürlich. Heimat beinhaltet immer auch die Landschaft, die Natur und das Brauchtum. Der Heimatschutz arbeitet heu-te mit den eigenständigen Fachverbänden zusammen. Mit Pro Natura verkaufen seit 1946 den Schoggitaler. In diesem Jahr geht der Erlös in die Förderung der Naturvielfalt vor der Haustür. Die Trachtenvereinigung Was schützt der Heimatschutz überhaupt?ging 1926 aus der Trachten- und Volksliedkommission des Heimat-schutzes hervor. Die Trachtenstube Teufen feierte unlängst ihr 25 Jahr Jubiläum. Die Raum- und Landschaftsplanung ist nach wie vor ein Kernthema. Und dieses ist eng verbunden mit der Nachhaltigkeit. Wir stehen voll hinter der Energiestrategie des Kantons.
Teil dieser Strategie ist die Nutzung erneuerbarer Energien – zum Beispiel Wind. Wie denkt der Heimatschutz über die Idee von Windrädern auf der Waldegg?
Dazu kann ich noch nicht viel sagen. Die Beurteilung von Windkraft-Projekten gehört nicht zu meiner Kernkompetenz. Wir werden uns deshalb sicher auch mit den Naturschutzverbänden absprechen und dann braucht es eine Interessensabwägung. Die für die Erstellung eines Windrades notwendige Infrastruktur wie Fundationen, Strassen etc. sollte man nicht unterschätzen. Das muss genau geprüft werden.
Wenn innerhalb der Bauzone und nach Vorschrift gebaut wird, ist die Bauherrschaft bei der Gestaltung sehr frei. Bräuchte es da eine andere Handhabung? Oder generiert das bloss zu viel Bürokratie?
Bürokratie ist wohl der falsche Ausdruck. Es braucht ein Engagement von den Gemeinden und ein Bekenntnis zur Baukultur. Teufen hat das FAOT – das ist schon viel. Gerade bei Projekten ausserhalb der geschützten Ortsbilder könnte die Beratung durch ein solches Gremium einiges bewirken.
Sicher haben Sie die Headline auch gelesen: Eine Schweiz mit 11,4 Mio. Einwohnenden. Sie sollen alle in den heutigen Bauzonen Platz finden. Läuft es Ihnen da kalt den Rücken runter?
Nicht unbedingt. Entscheidend ist hier das Raumplanungsgesetz. Es legt fest, wie wo gebaut werden soll. Bauzonen eignen sich im Grundsatz für die Verdichtung, die Land-wirtschaftzonen nicht. Die Er-schliessung des Streusiedlungsgebiets macht eigentlich schon aus ökonomischer Sicht wenig Sinn. Da sollte das Raumplanungsgesetz nicht aufgeweicht werden. Und Innenentwicklungs-konzepte zeigen regelmässig, dass die Dichte in historisch wertvollen Dorf- und Stadtkernen in der Regel sehr hoch ist. Daher werden wir die Lösung für die drohende Wohnungsnot nicht in den geschützten Ortsbildern und nicht in den Streusiedlungsgebieten finden.
Das klingt ein bisschen nach Zweiklassen-Gesellschaft: Wenn man Glück hat, lebt man in einer Streusiedlung mit viel Platz. Sonst wird man «verdichtet».
Das sehe ich überhaupt nicht so. Zum Glück sind wir Menschen sehr unterschiedlich: Die einen suchen wirklich das Leben in der Streusiedlung. Andere schätzen eine historische Wohnumgebung und wieder andere bevorzugen eine moderne Eigentumswohnung, die weniger Pflegeaufwand verspricht.
Da wären wir bei der «Kontrollfunktion» des Heimatschutzes. Er geniesst nicht unbedingt den besten Ruf. Oft wird von ihm als Verhinderer gesprochen. Spüren Sie viel von dieser Kritik?
Ich nehme das ehrlich gesagt nicht so wahr. Das gilt auch für meine Arbeit bei der Denkmalpflege, die diesen Ruf ja teilt. Natürlich: Wenn eine Bauherrschaft sich mit ihrem Projekt wegen uns noch einmal auseinan-dersetzen muss, ist das im Mo-ment nicht einfach. Aber später sind sie uns auch oft dankbar, weil das Projekt deutlich verbessert werden konnte. Ich ver-mute, der Ruf der Verhinderer stammt hauptsächlich von Stammtisch-Runden. Dort spricht man halt eher selten von den Erfolgsgeschichten.
Vielleicht gibt man als Bauherrschaft auch nur ungern zu, dass die Ansätze von «jemand anderem» zu einem besseren Resultat geführt haben.
Das ist möglich. Was bei dieser Diskussion oft vergessen geht, ist unsere kostenlose Erstberatung. Von ihr kann jeder profitieren – inkl. einer allfälligen Begehung vor Ort. Das ist eine tolle Dienstleistung. Einsprachen ermöglichen es uns leider erst spät mit der Bau-herrschaft ins Gespräch zu kommen. Dasselbe gilt für Projekte in der Bauzone, da schreiben wir kritische Hinweise zuhanden der Baubewilligungsbehörde. Damit arbeiten wir mit an einer hochstehenden Baukultur.
Ein aktuelles Thema des Ausserrhoder Heimatschutzes sind die «neueren alten Bauten». Plumpe Frage: Wurde nach 1930 überhaupt etwas gebaut, das schützenswürdig wäre?
In Ausserrhoden vielleicht etwas weniger als anderswo (lacht). Nein, ernsthaft: Natürlich gibt es Gebäude aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, die architektonisch von grosser Bedeutung sind.
Vielleicht denken wir in 100 Jahren auch anders über die «grusigen» 60er- und 70er-Jahre-Häuser.
Das ist sehr gut möglich. Oft schenken wir diesen Bauten wenig Beachtung, so lange sie wie selbstverständlich hier stehen. Ein Beispiel wäre die Teufner Post. Auch solche Funktionsbauten haben durchaus eine Geschichte und tragen zum Ortsbild bei.
Generell wird heute aber schon eher abgebrochen und neu gebaut, statt intensiv saniert.
Diese Entwicklung macht uns Sorgen. Wir finden es falsch, dass das Raumplanungsgesetz den Ersatzbau in der Landwirtschafts-zone vereinfacht hat. Natürlich stimmt es, dass moderne Bauten im Unterhalt weniger Energie verbrauchen. Aber dabei geht vergessen, dass ein beachtlicher Teil der «Lebensemissionen eines Hauses» bereits beim Bau entstehen – an die 50 Prozent. Deshalb weisen historische Häuser auch eine sehr gute Öko-Bilanz auf, nur schon wegen ihrer grossen Lebensdauer. Und da die traditionellen Häuser in unserem Kanton aus Holz bestehen, binden sie sogar noch CO2.
Also am besten keine Neubauten?
Es wird immer Neubauten brauchen. Insbesondere im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum. Der Heimatschutz ist nicht generell gegen neue Projekte – sie sind nötig und wichtig. Es gibt viele Beispiele für sehr gute und architektonisch wertvolle Bauten, die in den letzten Jahren entstanden sind. Aber bevor etwas abgerissen wird, sollte genau hingeschaut werden. Hier passt ein Zitat von Salomon Schlatter (1858–1922), der 1922 für den Heimatschutz das Büchlein ‘Das Appenzellerhaus und seine Schönheiten’ verfasst hat, doch sehr gut: «Prüfet alles und behaltet das beste.»


Jedem seine Grenze
Text: Julia Kubik
Das Theaterstück TRUCK STOP der mobilen Erzähltheatergruppe Café Fuerte stoppt für einen Abend vor dem Zeughaus
Die Luft ist frisch, es dunkelt ein, das Publikum sitzt gespannt und in Decken gehüllt, teilweise noch mit „El Gato Muerto“-Drinks in den Händen im Halbkreis vor einem Weissen Mini-Lastwagen. Es geht los.
Trucker Sandro (Stefan Pohl) sitzt seit Wochen fest. Er hat sich schon häuslich eingerichtet. An Hans (Tobias Fend), dem eifrigen Alleinherrscher über einen kleinen, unbedeutenden Grenzübergang, kommt keiner einfach so vorbei. Aber als Sandro eines Tages beim Wäsche aufhängen versehentlich den Grenzverlauf verlegt, kommt Grenzer Hans völlig aus seinem Konzept. Wenn man eine Grenze einfach verschieben kann, was ist sie dann noch wert? Was gilt dann überhaupt noch? Die Grenzen zwischen den beiden Männern verschieben sich zunehmend.
Das Stück beginnt direkt sehr energetisch mit einem neurotischen Anfall von Hans. Leidenschaftlich und ausser sich springt er auf und ab und erklärt die Schönheit und Notwendigkeit von Grenzen. Sie seien „Zeichnungen in der Natur“, „schützenswert“ und „wunderschön.“ Sandro hat kein Verständnis dafür. Er sieht in der Behauptung von Grenzen eher die totale Sinnlosigkeit. Es wird schnell klar: Hier geht es ums Ganze. Landesgrenzen als offensichtlicher Einstieg führen bald zu allerlei individuellen, moralischen und philosophischen Grenzen. Während Hans um jeden Preis vermeiden will, das Sandro „seine“ Ortsgrenze übertritt, Kann Sandro es nicht ertragen, das Hans es wagt, in seinen Truck einsteigen zu wollen, ohne zuvor seine Stiefel auszuziehen.
Es ist ein sehr abwechslungsreiches und vielseitiges Stück: Slapstick-Momente wechseln sich mit Melancholischem und Intimem ab. Hans telefoniert immer wieder mit seiner Tochter „Prinzessin“, Sandro mit seiner Mutter. Beide sehr aufgeregt und um das Wohl ihrer Nächsten besorgt. Ausserdem erfährt Sandro, das die Frau von Hans schon seit längerem in einem „Töpferkurs in Sardinien ist, wo sie krumme Vasen gatscht“ und nutzt diese Information, um Hans‘ Heile-Welt-Selbstbehauptung kritisch zu hinterfragen.
In kürzester Zeit werden sämtliche grossen Themen des Menschseins wie Einsamkeit, Liebe, Sehnsucht, Schmerz, Familie und Freiheit verhandelt. Dazwischen gibt es viel Situationskomik und Konflikte, die immer absurdere Haken schlagen. Begleitet wird das ganze vom virtuosen Musiker Philipp Lingg (auch bekannt aus der Band Holstuonarmusigbigbandclub, die 2010 mit dem Lied Vo Mello bis ge Schoppornou im Vorarlberger Dialekt einen Österreichischen Chart-Hit landeten) an Gitarre, Akkordeon und Gesang. Manchmal singen sie auch alle zusammen.
TRUCK STOP ist ein sinnliches Gesamtereignis und nicht nur inhaltlich, sondern auch formal immer wieder überraschend. Grossflächige Projektionen auf dem Truck bilden eine zusätzliche visuelle Ebene. Mal sind es eher abstrakte Animationen, mal sehr wahrheitsgemässe Nachbildungen von Fernseh-Quizshows.
Geschrieben hat das Stück Tobias Fend, Regie geführt hat Danielle Fend-Strahm. Für die Szenografie war Ronja Svaneborg verantwortlich, assistiert hat Nadine Schütz.
Am Ende werden die Grenzen zwischen den Männern etwas gelockert, was unter anderem mit einer Dose Tomatensuppe zu tun hat. Mehr sollte an dieser Stelle aber nicht gespoilert werden. Ein Livebesuch lohnt sich. Die baldigen Spieldaten sind auf cafefuerte.at zu finden.

Sehnsucht an der Theke
Text: Jo Glaus
Beim Eintreten durch schwere Vorhänge in einen kleinen Schuppen schwappt einem schon eine Duftwelle von Zedernholz, Zitrusnoten und Yuzu entgegen. Sofort wird man in die kleine Bar hineingesogen; in eine andere Welt.
Michael Bodenmann und Barbara Signer (Barmann*frau und Mitführer*in des Kunstprojekts El Gato Muerto) erzählen davon, wie dieser Mikrokosmos entstand.
Vor dreieinhalb Jahren fand im Kulturkonsulat eine Ausstellung zum Thema «Work Life Balance» statt. Im Rahmen dessen kam die Idee auf, eine Bar zu gestalten. Zwei Wochen bevor die Coronapandemie ausbrach, wurde das Projekt auf die Beine gestellt.
So nahm die Bar schnell einen Stellenwert als Sehnsuchtsort ein. Ein Raum, in dem die Zeit still steht, in dem es nur Geschichten, Gelächter, japanisches Bier und den Moment gibt. In der Bar sticht das Fernweh heute noch, auch wenn die Grenzen wieder offen stehen.
Die Wände tropfen nur so vor Erinnerungsstücken, eigene und fremde Erfahrungen in den lebenden Dingen. Post- und Visitenkarten, Souvenirs, aber auch persönliche Fotografien – darunter ein Bild der Küche in Michaels Elternhaus, welche mit ihren reich bestückten Wänden an die Bar selbst erinnert.
Man fühlt sich, als würde man eine Wohnstube betreten.
Michael erzählt von seiner Zeit in Japan und dass man dort solche engen, «struben» persönlichen Bars an jeder Ecke findet. Die Inspiration ist klar nachvollziehbar. Von Japanische Kult- und Actionfiguren, Flaschen, geschmückt mit japanischen Schriftzeichen, Schallplatten und Miniaturmodellen von Gebäuden über die Auswahl der servierten Getränke, bis hin zur Atmosphäre, zusammengesetzt aus einem Duft, der an japanische Zedernholzhäuser erinnert, dem kleinen Raum, welcher zum Kennenlernen animiert und der Hintergrundmusik.
Tatsächlich sind viele Erinnerungsstücke aus ihrer Zeit in Japan dabei. Die Bar ist jedoch nicht länderspezifisch aufgebaut. El Gato Muerto prangt stolz auf einem Leuchtschild über der >span class="NormalTextRun SCXW841118 BCX2">. Dieses hat Michael von seinen Reisen in Argentinien mitgebracht.
Gewisse Kunstwerke sind extra für die Bar angefertigt worden, sei das von Zürcher Künstlern oder beschwipsten Gästen. Weitere Objekte erzählen die Geschichte der Bar selbst. Ein festlich eingerahmter Schlüssel erinnert an den letzten (illegal) besetzten Standort. Bilderreihen an weiteren Standorten zeigen die verschiedenen Gesichter der wandernden Bar.
El Gato Muerto bleibt nicht lange an einem Ort. Die Bar zieht umher, auch über die Landesgrenzen hinaus und beglückt Menschen an den verschiedensten Orten. Sie stagniert nicht, sie wandelt sich je nach architektonischem Raum und individuellem Umfeld. Nie ist sie anonym, sondern unerschrocken intim. So ist und bleibt sie unkonsumierbar.
Für die Gäste kann sie mit ihrem engen Raum eine Plattform zur Interaktion mit anderen Gästen und Barkeeper*innen, mit den Objekten und deren Geschichten, wie schlussendlich auch mit sich selbst führen. So wird sie zu einem kleinen «Safespace», einer Zeitkapsel, in der man einfach mal sein darf.
Die Bar ist immer bedient. Sie ist also kein stilles Kunstwerk, eher eine Mischung aus Performance- Art, szenografischer Interaktionsfläche und Geschichtenstätte.
Nicht nur die Erinnerungsstücke erzählen Geschichten. Die Bar füllt sich auch mit jedem Besuch weiter, mit Anekdoten, neuen «Knick-Knacks» und Musse.
Diese Bar ist für Barbara und Michael ein Stück Heimat, welches sie immer wieder an neuen Orten aufbauen können. Eine fremdbekannte Parallelwelt.
Ich kann nur empfehlen: eintreten, anstossen und ankommen.

Kunst aus der Agglo
Liebe Leser*innen
Apropos Heimat: es würde mich interessieren, wie die Kunst von Schweizer Künstler*innen aussähe, wenn sie für eine Saison mal nicht in aufregenden Weltstädten Atelierstipendien bekämen, sondern in Wittenbach, Wolfhalden und Heerbrugg. Sie hätten dort zwar auch Ateliers, aber nicht in den aufregenden Künstler:innenvierteln sondern in Randgebiet-Mehrfamilienhäusern, und die einzige offizielle Bezugsperson wäre der/die Auszubildende im nächstgelegenen Gemeindetzentrum. Was hätte das für inhaltliche und formale Auswirkungen auf die Kunst? Und auf die Orte?
Spannende Fragen, aber hier in dieser Ausgabe eigentlich überhaupt nicht das Thema. Sondern: Bar, Theater, Heimatschutz! Der Freitag neigt sich dem Ende zu, der Samstag ist nah. Programm kommt, Programm geht, HEIP bleibt. Alles Gute und auf Bald!
PS: evt. ist es ihnen bei Ausgabe 1 schon aufgefallen: wir haben (aus Zeit und Koordinationsgründen) in der HEIP-Redaktion kein Lektorat, und deswegen womöglich einige Schreibfehler im Blatt. Sie dürfen diese gerne cool ignorieren oder sich herzlich darüber aufregen, ganz wie Sie möchten.
Julia Kubik, Redaktion




Die Gemüsesuppe meiner Familie
Text: Jo
Kurz zum Kürzel Jo: Ich, Johanna Glaus, wurde seit meinem Studienbeginn in Basel (Geografie und Ethnologie) umbenannt.
So startete ich mein Leben in der für mich gewaltigen Stadt mit einem kompletten Neuanfang.
Aufgewachsen bin ich im konservativen Dorf Muri AG. Ich konnte dort nie richtig Wurzeln schlagen und wuchs schnell aus den Grenzen meines Hauses heraus. An den Wochenenden flüchtete ich mich in ein benachbartes Dorf, in welchem ich das erste Mal mit Migrationsarbeit in Kontakt kam. Diese prägte mich und meine Zukunftswünsche. Schon bald wusste ich, dass ich weiterhin in diesem Umfeld arbeiten wollte.
Mit 16 flog ich in das Berner Oberland aus. Dort verbrachte ich ein Jahr im Internat École d’Humanité. Mit seinen reformpädagogischen Ansätzen, den internationalen Schülern und der frischen Bergluft, eröffnete es mir eine neue Welt und mein jugendlicher Selbstfindungsprozess setzte sich fort.
Das begonnene Gymnasium schloss ich im Aargau ab. Auch dort stiess ich immer wieder auf Themen, wie Migration, und im Rahmen meiner freiwilligen Arbeit, auf Internationale Entwicklungszusammenarbeit.
Aus den gesammelten Erfahrungen der Menschen, mit denen ich in diesem Rahmen zusammentraf, und meinen eigenen Erlebnissen, gewann das Wort Heimat immer mehr an Relevanz.
Als die Maturaarbeit anstand, war mir klar, dass ich die Bedeutung, welcher dieser Begriff in (meinem) Leben hat, weiter vertiefen wollte. So entstand meine Arbeit, ein bunter Austausch mit verschiedenen Menschen, eine vorläufige Definition und ein Podcast aus spannende Gesprächen.
Es wurde mir bewusst, wie viele Menschen im Verlauf ihres Lebens einen Heimatverlust erleiden. Sei das durch tatsächliche Ortswechsel, den Tod eines geliebten Menschen, den Verlust eines Kulturgutes oder eines anderen Aspekts des persönliches Heimatmosaiks.
Dieser Verlust verleiht oft ein tieferes Bewusstsein für das Thema Heimat. So Habe ich für mich herausgefunden, wie wichtig es ist, innerlich, sowie im gegenwärtigen Moment Raum zu schaffen, sodass man sich selbst ein Zuhause sein kann.
Diesen Prozess habe ich noch nicht vollendet. Bis dahin finde ich meine Heimat in meinen liebsten Büchern und Melodien, in der Morgensonne, unter den Bäumen und in der Gemüsesuppe meiner Familie.

Eigentlich finde ich Heimat vorallem in Freundschaften, Kulturprodukten und zufälligen Momenten, hier trotzdem ein Text über Herkunfts-Heimat
Text: Julia Kubik
Aufgewachsen bin ich in Buchs, Wahlkreis Werdenberg, Region Rheintal, Kanton St.Gallen. Heute, seit über 10 Jahren in der Stadt St.Gallen wohnend, sag ich meistens nur „Rheintal“ oder „Chancental“(ehemaliger Standort-Werbeslogan, den viele (Ex-)Rheintaler:innen halbironisch benutzen)wenn mich jemand fragt, woher ich bin. Es ist interessant zu beobachten, was dann beim Gegenüber passiert. Meistens wird in diesem Moment mit einer Erwartung gebrochen, weil: ich bewege mich hauptsächlich in (eher urbanen) Kunst und Kultur-Kreisen, kann weder Autofahren noch vertrage ich viel Alkohol, hab keine nennenswerten Handwerklichen oder Sportvereinsmässigen Skills, und einen erkennbaren Dialekt hab ich auch nicht, resp. die Rückstände davon haben sich mit der Zeit immer mehr verwaschen. Manchmal wird dann gesagt: „Ah krass, me merkts der garnöd aa.“ Das Rheintal geniesst ausserhalb seiner selbst keinen besonders guten Ruf. Es ist bekannt als rustikale Gegend, von Industrie und Landwirtschaft geprägt, unschöne Einfamilienhaus-Dörfer die sich ohne richtiges Zentrum an tristen Stassen entlangziehen, schroffer Mentalität und rauhem Dialekt. Einmal sagte mir einer, den ich erst seit ca. 5 Minuten kannte, bei einer Party in St.Gallen: „Krass. S’Rhintl isch wie d’USA. Überall mueme mitem Auto ane und d’Lüt sind vill Gwaltbereiter. Es isch de rust belt vode Schwiz.“ Ich fand das zwar lustig, aber auch ziemlich übertrieben. Zwar gehe ich bei fast allen negativen Rheintal-Vorurteilen mit, kann mir nicht vorstellen, jemals wieder dorthin zurückzuziehen und bin mit 17 relativ überstürzt und entschlossen weggezogen. (Wenn auch, zugegeben, St.Gallen nicht richtig weit weg ist) Aber mit zunehmender Distanz sehe ich auch klarer, was ich dort mochte. Und einige Dinge vermisse ich. Die Weite der Landschaft, das breite Tal, das Gefühl von Platz und Aussicht in alle Richtungen, obwohl man von Bergen umgeben ist. Die wilden und weitläufigen Teile der Natur. Ein paar sehr liebe Menschen. Die Störche im Riet, die Kiesdämme am Rhein, die vielen bekannten Wege und Plätze. Den speziellen Humor, den das Leben in der Provinz bei manchen Leuten mit der Zeit herausschleift. Überhaupt: der Witz, der in der Sprache steckt. Vielleicht würden mir das Leute, die nicht da aufgewachsen sind auch absprechen(weil wiegesagt: grösstenteils unbeliebter, rauher Dialekt), oder als Verklärung abtun. Aber ich kann nichts dagegen tun, das ich mich freue, und oft amüsiere, wenn ich den Dialekt wieder höre. Er transportiert ein Lebensgefühl, das ich schlecht mit Worten beschreiben kann, aber emotional immer wieder daran anknüpfe. In kleinen Dosen und mit dem Wissen, jederzeit wieder weggehen zu können. Long Story short: Beim Gedanken an rechtskonservative Politik, Fasnachtsbeizen, Saufen und Sport als einzig vorstellbare Freizeitbeschäftigungen, Hells Angels, Schützenvereine, Autofixierung und Gewaltbereitschaft gruselt mir, und ich bin froh, dort nicht mehr zu wohnen. Aber wenn ich mit der S-Bahn richtung Buchs fahre, das Tal sich weitet, und das alte, extrem baufällige Buchser Kieswerk hinter dem (sehr hässlichen)Bahnhof ins Blickfeld tritt, wird mir warm ums Herz. Und dann spaziere ich zu irgendwelchen vertrauten Orten, in der Hoffnung, einpaar kauzige Locals erzählen gerade eine lustige Geschichte, und ich kann mich spontan dazusetzen.

Mitteilung: Das HEIP-Logo wurde von Sophia Freydl gestaltet
Sophia ist freischaffende Illustratorin. Nach ihrer Erstausbildung als Grafikerin, hat sie an der Hochschule Luzern Illustration Fiction studiert. Sie wohnt in Wald Ar und arbeitet neben der Illustration als Verkäuferin in der Weinhandlung Sonderegger Weine in Heiden.


Ist das unsere neue Heimat?
Text:Jo Glaus
Heimat: Wir alle kennen und nutzen diesen Begriff, doch gibt es eine wirkliche Definition, eine allgemeine Bedeutung zu diesem individuellen Gefühl, das wir zu Hause sein nennen? Immerwieder kommt die Rede auf Heimat, wenn man sich von jemandem verabschiedet, um nach Hausezu gehen, als Werbeslogan für einen lokalen Supermarkt, in einer Diskussion über Einwanderung und so weiter. Dieses Wort fällt einem schnell aus dem Munde, obwohl die wenigsten sagen können, was Heimat wirklich für sie bedeutet. Es gibt kaum einen so undefinierbaren und vielseitigen Begriff, wie diesen in der deutschen Sprache. "Heimat ist ein vermintes Gelände, ein kontaminiertes Feld -in ihrem Namen wurde diskriminiert und gemordet, geschützt und gerettet." (Heimat -zwischen Fürsorge und Verbrechen, 2017)Und doch hat dieser Begriff eine unglaubliche Relevanz erlangt im Angesicht der zahlreichen globalen Herausforderungen, die uns zurzeit bevorstehen. Das Gesprächüber Heimat ist längst überfällig. Vor allem in Krisensituationen, müssen wir auf dieses Gefühl zurückgreifen, um uns vor einem Heimatverlust zu bewahren und lernen, wie wir espräservieren können, ohne dabei derXenophobie zu verfallen. Die Globalisierung hat eine Flutwelle neuer Möglichkeiten mitgebracht und einen Teil der sowohl einschränkenden wie auch schützenden Barrieren mitgeschwemmt. Wie kann man in diesem, sich rapide entwickelnden Zeitalter Heimat finden? Wenn all diese Grenzen neu gesetzt werden müssen, und die Sicherheit nicht nur durch die Menge an negativen Nachrichten, sondern auch durch Reizüberflutung im Interneteingeschränkt wird, ist es schwierig ein Gefühl von Heimat zu erlangen.
Definition
Hei-mat, die
Bedeutungen:
-Land, Landesteil oder Ort, in dem man geborenund aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)
-Ursprungs-, Herkunftsland eines Tiers, einer Pflanze, eines Erzeugnisses, einer Technik
Das ist die Definition, die man offiziell im Duden findet, und was wahrscheinlich auch was dem Durchschnittsbürger durch den Kopf geht, wenn er an Heimat denkt. Sehen wir uns die Übersetzung dieses Begriffes auf Englisch oder Französisch an, wird er stark vereinfacht. Sowohl home als auch patrie sind viel eindeutigere Wörter als unsere deutsche Heimat. Auch in deren offiziellen Duden geht es bei diesen Begriffen eher um das Haus, in dem man wohnt, oder das Vaterland.Jedoch istHeimatein vielfältiger und wandelbarer Begriff, der in unserer Geschichte schon gross gelobt und oftmissbraucht wurde.Jeder hat eine andere Antwort auf die Frage: Was bedeutet Heimat für dich? Darunter wiederholen sich Begriffe wie das Vaterland, das Elternhaus oder die Familie, ob man sich diese ausgesucht hat, oder hineingeboren wurde. Doch auch Religion, Kulturen, Kunst und Essen können ein Heimatgefühl hervorrufen. Eines haben all diese Antworten gemeinsam, und daraus können wir unseren ersten und wichtigsten Schluss ziehen.Heimat ist Bindung.
Es ist die Art von Bindung, die nur der Mensch zu einem Subjekt oder Objekt aufbauen kann und die für ein Sicherheits-und Geborgenheitsgefühl sorgt. Eine emotionale Bindung erstellt man automatisch zu einem Objekt, das eine Konstante darstellt im eigenen Leben und dadurch eine viel tiefere Bedeutung erlangt. Es ist die Bindung, die das Stofftier der Kindheit zu einem fast schon unverzichtbaren Gefährten machte, aber auch die Bindung, die man zu seinem Zimmer und seinen Kameradenaufbaut. Was einst eine evolutionäre Überlebenstaktik war, ist nun eine für uns nutzbare Quelle, um Beheimatungen zu erschaffen. ln anthropologischer Hinsicht zeigt die geschichtliche Charakterisierung des Heimatbegriffs das Bedürfnis nach Raumorientierung, entsprechend einem Territorium bei Tieren. Dieses Sicherstellen der Existenz, führt also zu einem Bindungsgefühl, welcheswir bewahren wollen. Heute noch suchen Menschen ein abgesichertes Leben. So können wir auch den nächsten Schluss ziehen, Heimat korreliert stark mit Sicherheit, sei dies auf der Ebene der Grundbedürfnisse, oder auf politischer und sozialer Ebene.Die Entstehung von Heimat, beginnt bereits in der Kindheit. Von dem Moment an, in dem man in die Welt hinausgesetzt wird, hält man sich an Orientierungspunkten fest. Dazu zählen zum Beispiel die Familie, beziehungsweise die Menschen, von denen man umgeben ist, die Sprache oder auch der Ort, an dem wir geboren wurden. ln diesen Punkten können wir oft die uns am stärksten prägenden Heimatfaktoren wiedererkennen. Bildung ist hierbei eine wichtige Grundlage, um auch die Konkretisierung dieser einzelnen Faktoren durch die Geschichte zu verstehen und ihre historische Bedeutung zu erkennen. Somit eignen wir uns individuell im Verlauf unserer Entwicklung, geprägt durch Umwelt, Bildung und Erfahrungen eine Heimat an, Diese Bindungen werden unser Leben langweitergeführt und ausgebaut. Es ist jedoch auch möglich, einen dieser Bezugspunkte zu verlieren. Heimat, dieses Wort ist uns allen meist als positiver Begriff bekannt, doch ihn als solchen zu definieren, würde von der Realität abweichen. lm Namen der Heimat wurde gemordet und diskriminiert. Oft wurde dieser hoffnungsschwangere Begriff zur Waffe umfunktioniert. Es gibt kaum ein bittersüßerer Begriff als Heimat. Heimat funktioniert in den Kampfparolen von xenophoben Rechtspopulisten genauso gut, wie auf der kitschigen Tür Matte, die einlädt einzutreten. Heimat ist ein mentaler Geschmacksverstärker für fragwürdig billige Lebensmittel, die garantiert nicht aus eben diesen ökologisch intakten Idyllenstammen, die sie als Werbebild benutzen.Der Begriff der Heimat ist ein wandelbarer Platzhalter für Sehnsüchte, die man nicht anders beschreiben kann. Das macht eine allgemeingültige Definition schwierig. ln philosophischer Hinsicht kann Beheimatung auch als Prozess der Weltaneignung verstanden werden, durch den der Mensch immer und überall eine für ihn fremde, unwirtliche Welt in ein Zuhause verwandelt. So kann man die Heimat auch als ein Arbeitsprozess verstehen."Man ist nicht nur Kind seiner Heimat, die Heimat wird einem auch zum Kind. Und so, wie man dieses nicht nur hatund sich daranerfreut, trögt man auch die Verantwortung dafür. Wo Bindung ist, ist Verantwortung. (Karin Brandauer, zitiert in Heimat 2020)Heimat ist also nicht nur unser Schutz und Bezugsort, sondern sie ist verwundbar und sollte aktiv aufrechterhalten werden. Bindungen bleiben nur dann stark, wenn man sie pflegt. Menschliche Beziehungen, das Führen eines Haushaltes, das Lesen einer Lektüre,das Besuchen einer Kirche, all diese Dinge müssen ausgeführt und gepflegt werden. Sie können dafür die Sicherheit und Eingebundenheit in diese Welt für uns aufbauen.
Die einzige Definition, die ich schlussendlich allgemein hinstellen kann, ist, dass Heimat eine Begleiterscheinung einer starken Bindung ist, die eine Geborgenheit und ein Sicherheitsgefühl auslöst. Zu welchem Bezugspunkt diese Bindung besteht, ist nicht relevant.
Was löst das Gespräch über Heimat aus?
Warum spricht man so selten über Heimat?
Sich Fragen darüber zu stellen, was die persönliche Bedeutung dieses Begriffes ist, kann der eigenen Psyche ein starkes Gerüst verleihen. Bei einem Umbruch in einer Biografie, welcher durch grosse persönliche Erschütterungen auftreten kann, entfaltet diese Selbstbefragung eine praktische Bedeutung. Hierbei bricht eine fundamentale Zugehörigkeit unwiederbringlich weg. ln solchen Situationen erweist es sich als hilfreich, wenn man sich seinen verschiedenen Beheimatungen explizit bewusst wird. Heimat kann sich nämlich auf den verschiedensten Ebenen zeigen. Wenn man sich diese vergegenwärtigt, gibt man dem Gefühl der Heimatlosigkeit weniger Macht. So gelingt einem zunehmend die Relativierung der Verlustängste oder des Verlustes. Wenn man diese nicht immer offensichtlich begleitenden Quellen bewusst betrachtet, eröffnet sich eine neue, philosophische Lebensweise.Leider wird eben dieses Gespräch zu selten geführt und so bleiben die verschiedenen Aspekte der Heimat unsichtbar. Vor allem jetzt, wo uns weltweite Krisen gegenüberstehen, sowie die Globalisierung in Verbundenheit mit der Verbreitung des Internets, versuchen sich die Menschen abzuschotten und zurückzukehren in das Bekannte. Die Angst vor dem Verlust der Sicherheit undder Zugehörigkeit verbreitet sich rasant. Genau dies führt zur Bildung von kleineren extremen Gruppen, die durch politische, soziale oder auch andere Faktoren verbunden sind. So zerbricht unsere Welt in opponierende Fragmente, die gegeneinander arbeiten.Dieses Phänomen kann man in Amerika anschaulich betrachten. Die liberalen und konservativen Meinungsbilder konkurrenzieren miteinander. Oft wird schon eine politische Haltung mit in die Wiege gelegt. Kinder aus diesen Haushalten wachsen mit grossem Misstrauen gegenüber der opponierenden Seite auf. Die Trennung der Bevölkerung aufgrund dieser zwei Merkmalen ist in den USA markant und mit viel Hass verbunden. Wie Pinguine auf auseinanderbrechenden Eisschollen rücken wir näher zusammen, angesichts der drohenden Auflösung bislang bekannter und sicherheitsgebender Grenzen. Diese Transformation, die wir durchlaufen in der Moderne, dem Internet Zeitalter, beeinflusst die bisherige Wahrnehmung von Heimat auf allen Ebenen. Vielen fällt es schwer sich den rasanten Veränderungen anzupassen und ihr Sicherheitsgefühl zu garantieren. Somit stehen sie vor einem Heimatverlust, mit dem sie nicht umgehen können. Allein schon durch das Bewusstsein darüber, warum ein Mensch in solche Muster der kleinkarierten Trennungen verfällt, würde es besser gelingen eine Gemeinschaft zu bilden, die über eine Familie oder gar ein Dorf hinausgeht. Man kann sich dem Aufbau einer neuen Heimat zuwenden, auf einer Ebene, die einem zu diesem Zeitpunkt zugänglich ist. Es eröffnet die Möglichkeit sich überall eine Heimat zu schaffen, ausgenommen von Orten mit prägnant einschränkenden, externen Faktoren. Martin Heidegger beschreibt dieses Phänomen als ein an die Welt verfallen sein. So passiert eine ständige Bewegung vom Unzuhause sein weg, in die sinngedeutete und dadurch lebbare Welt, das Zuhause. Es ist die Flucht vor der beängstigenden Wahrheit, ins nichts der Welt hinausgesetzt zu sein, was unser Urzustand beschreibt. So beginnt man sich zum Selbstschutz zu objektivieren; er beschreibt es als ein ans man verfallen. Es ist einfach, einen Satz auszusprechen, der mit einem man als Subjekt funktioniert. Es nimmt uns jedoch, die Verantwortung, die jeder für sein eigenes Leben trägt. Denn nur du kannst und musst dein Leben leben, diese Aufgabe kann dir niemand abnehmen.
Wir benutzen das man also, um dieserJemeinigkeitzu entfliehen. Es ist einfacher als sich wirklich mit dem Unzuhause, wie auch dem Zuhause sein auseinanderzusetzen.Doch auch wenn das erschreckende Bewusstsein dieser Faktoren, die das Leben diktieren, erst zu einer Überforderung führt und einem Rauswurf aus der von uns lebbar gemachten Welt, dem Zuhause, eröffnet einem dieser Einblick in das Unsichtbare eine ganz neue Form von Heimateine Form, die weniger gemütlich ist, doch der absoluten Wahrheit unserer Welt näherkommt und somit in jeder Lebenslage ein Zuhause darstellen kann, sobald man sie erkannt und gelernt hat mit ihr umzugehen und sie zu schätzen.
Editorial Ausgabe 1
Liebe Leser:innen der ersten Ausgabe von HEIP
Jemand sagte neulich: „ständig wird s’Appezell als totali Idylle verkultet, debii isch meistens schlecht Wetter oder es stinkt noch Gülle.“ Sind sie auch dieser Meinung? Oder brennen Ihnen bereitsdie Idyll-hochhaltenden Gegenargumente unter den Nägeln? Wo fühlen sie sich am meisten Zuhause? Wäre Heimat als Gewässer eher ein stehedes oder ein fliessendes? Würden Sie lieber für eine Woche in der Ofelochschluchtwohnen oder in einem Stahlnest im Dacheines Grossstädtischen Bahnhofs? Wohin würden sie Morgen auswandern, wenn sie müssten? Ist ihnen eine bestimmte Sprache nahe, obwohl Sie sie nicht verstehen? Fühlen sie sich wohl auf Baustellen*? Mögen sie lieber den Geruch von ausgelaufenem Benzin oder den von sich anbahnenden Wildschweinen(angeblich: wie Maggi)? Löst der Begriff Heimat bei Ihnen eher Freude, Angst, Nostalgie, Scham, Stolz oder Gleichgültigkeit aus? Oder etwas ganz anderes?
Wir würden gerne über dies und noch vieles mehr in einen Dialog kommen–schriftlich, analog und digital(hier), aber auch vor Ort, im umstrittenen Idyll Teufen.Wir sind eine temporär ins Leben gerufene Redaktion, bestehend aus Jo Glaus und Julia Kubik, und werden die Kulturlandsgemeine 2023 zum Thema Heimat laufend schreibend Begleiten.
Bis bald!
Julia Kubik
Redaktorin
*PS: passend dazu, das der Heimatsbegriff eine ewige Baustelle ist, schmückt diese erste Ausgabe eine eigens für uns kuratierte Bildstrecke vom Instagram-Profil IG Baumaschine

Fachpublikation für heimatliche Fremdwahrung
Die Heimatpost ist sowohl die Begleitschrift zur Kulturlandsgemeinde 2023, als auch ein Sammelbecken für mediale Beträge aller Art, die zur heimatlichen Begriffsforschung beitragen.


