HEIP

24. Mai 2023, 17.59 Uhr

Wir sind alle gleich anders

Text: Julia Kubik

Der Kör­­per ist eine Schick­­sals­hei­­mat. Warum tut sich die Ge­­sell­­schaft so schwer damit, ver­­­schie­­de­­ne Kör­­per(-bil­­der) zu ak­­zep­tie­ren? Was heisst Ar­­beit am Kör­­per in einer Leis­tungs­­­ge­­sell­­schaft? Wie ver­­än­­dert die Mode unser Ver­­häl­t­­nis zum Kör­­per? Und wie geht man damit um, wenn die kör­­per­­li­che Hei­­mat zer­­fällt? 

 

Der Sams­tag ist der dich­tes­te Kul­tur­lands­ge­mein­de­tag: immer ist über­all etwas los. Kurz nach­dem die lee­ren Tel­ler und das gross­ar­ti­ge Mit­tags­buf­fet ab­ge­räumt wur­den, be­ginnt die Zwei­te Platt­form. Thema: Hei­mat als Kör­per und Hülle.

 

Mo­de­ra­to­rin Co­rin­ne Rie­de­ner spricht mit den Gäs­ten Fa­bi­enne Luna Egli, Chri­s­toph Kel­ler, Jana So­phie Roost und Ly-Ling Vilay­sa­ne. Eine sehr viel­sei­ti­ge Runde. Egli ist Gra­­fi­ke­rin, Il­lus­tra­to­rin und Kurz­­­fil­m­a­­ni­­ma­to­rin. Ihre trans­­ge­schlecht­­lich­keit und eine Au­tis­mus-Spek­trums­s­tö­rung haben sie in ihrem Leben dazu ge­zwun­­gen, sich mit Kör­­per und Psy­che in­ten­siv aus­­ein­an­­der­­zu­­set­­zen. Kel­ler ist Autor zahl­rei­cher preis­­ge­­krön­ter Ro­­ma­­ne, unter an­­de­rem «Ich hätte das Land gern flach», «Der beste Tän­­zer» und «Der Boden unter den Füs­­sen». Er hat die Krank­heit spi­na­le Mus­ke­la­tro­phie, bei der sich die Mus­keln zu­neh­mend ab­bau­en, und ist des­we­gen auf einen Roll­stuhl an­ge­wie­sen. Roost schrieb vor kur­z­em ihre Ma­tu­ra­a­r­­beit zum Thema «Bu­­li­­mie und Ma­­ger­­sucht im Leis­tungs­­s­port». Dabei zeig­te sie die Zu­­sam­­men­hän­­ge zwi­­schen dem Ver­­lauf von Ess­­stö­run­­gen und kör­­per­­li­chem Leis­tungs­­­ver­­mö­­gen auf. Vilay­sa­ne führt eine Mo­de­bou­tique in St.Gal­len und setzt sich in ihrem All­tag viel mit den Kör­per­wahr­neh­mun­gen(ob reale oder ge­wünsch­te) ihrer Kun­d*in­nen aus­ein­an­der. Ihr Credo: man muss sich in sei­nen Klei­dern wohl­füh­len.

 

Die Ein­stiegs­fra­ge lau­tet: „Was braucht ihr, um euch wohl und zu­hau­se zu füh­len?“

„Bei mir ge­hö­ren Kör­per und Geist sehr eng zu­sam­men. Nähre ich den Geist an­ge­mes­sen, geht es meis­tens auch dem Kör­per gut“, lau­tet Eglis Ant­wort. Jana sagt, sie fühlt sich am wohls­ten, wenn sie von Freund:innen und Fa­mi­lie um­ge­ben ist. Kel­ler meint, am bes­ten sei aus­ge­schla­fen sein, mit dem Hund rol­len gehen und ein ge­müt­li­ches Nach­mit­tags-Bier. Und Vilay­sa­ne ant­wor­tet schlicht: „wenn ich mich wohl­füh­le, fühle ich mich meis­tens auch zu­hau­se.“

 

The­ma­tisch geht es von aus­sen nach innen, also recht früh zum Thema Kör­per-Hülle, an-klei­den und ver-klei­den. Vilay­sa­ne er­zählt, das viele äl­te­re Frau­en, die zu ihr ins Ate­li­er kämen, ihr Fra­gen stel­len wie: Darf man meine Knie und Ell­bo­gen noch sehen? Oder sind sie zu schrum­pe­lig, zu un­schön ge­wor­den? Muss ich mich ver­hül­len? Kön­nen Sie mir die Ärmel ver­län­gern, damit man nichts von mei­nen Armen sieht?

Na­tür­lich würde sie die Wün­sche ihrer Kun­din­nen best­mög­lich um­set­zen, aber manch­mal wünsch­te sie sich auch, vor­al­lem für diese Frau­en selbst, sie hät­ten ein ent­spann­te­res Ver­hält­nis zu ihrem Kör­per. „Ist doch nor­mal, das sich der Kör­per im Alter ver­än­dert. Damit ist nie­mand al­lein. Je­des­mal, wenn ich in Ita­li­en am Strand bin und sehe, wie cool und frei­zü­gig viele Frau­en dort mit ihren al­tern­den Kör­pern um­ge­hen, wünsch­te ich mir, das wäre hier ein biss­chen mehr so. Weil wer sich wohl fühlt, hat au­to­ma­tisch eine schö­ne Ausstrah­lung.“

 

Egli: „Für mich hat Klei­dung viel mit Kom­mu­ni­ka­ti­on nach aus­sen zu tun. Also wenn ich z.b. ein Star Wars-Ts­hirt trage, dann will das auch sagen: ja, du darfst mich gerne auf Star Wars an­spre­chen. Ich bin dann ein biss­chen wie eine Lit­fass­säu­le.“

 

Kel­ler sagt zum Thema Klei­dung über sich selbst, er sei „mo­disch eher un­be­gabt“ und fragt Vi­say­sa­ne um Rat, die aber nur ant­wor­tet, das er eh schon alles rich­tig mache, wenn er sich in sei­ner Klei­dung wohl­füh­le.

 

Egli er­zählt, das sie in ihrem Kör­per viel mehr zu­hau­se ist, seit die­ser ope­ra­tiv so an­ge­passt wurde, wie sie sich in­ner­lich schon immer fühl­te. Und plä­diert all­ge­mein dafür, das streng bi­näre Sys­tem und ver­al­te­te Kör­per­li­der und Rol­len­mus­ter ab­zu­schaf­fen, da sie viel mehr Leid als gutes ver­ur­sa­chen und den Schön­heits-und Nor­mie­rungs­druck er­hö­hen-auch bei Cis-Men­schen. Sie sieht da aber lei­der der­zeit einen ge­sell­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Back­lash. Und ist in der Runde nicht al­lein mit die­ser Sicht.

 

Roost sagt, das es ein Irr­tum sei, das nur oder vor­al­lem junge Frau­en unter Ess­stö­run­gen und ver­zerr­ter Selbst­wahr­neh­mung lei­den. Junge Män­ner hät­ten oft ein eben­so ge­stör­tes Kör­per­bild, nur geht es meis­tens in eine an­de­re äs­the­ti­sche Rich­tung: gros­se, sicht­ba­re Mus­keln um (fast) egal wel­chen Preis.

 

Alle sind sich einig: nor­mier­te Schön­heits­ide­a­le sind ei­gent­lich kom­plett ver­al­te­ter Quatsch. Aber trotz jün­ge­ren me­di­a­len Be­we­gun­gen, wie #bo­dy­po­si­ti­vi­ty oder auch das etwas nied­rig­schwel­li­ge­re #bo­dy­neu­tra­li­ty, sind sie nicht leicht aus un­se­ren Köp­fen zu krie­gen.

 

Kel­ler ver­mu­tet hin­ter dem Schön­heits,-und Selbst­op­ti­mie­rungs­druck eine gros­se, ur­al­te und all­ge­mei­ne Angst vor dem fremd-sein und an­ders-sein. Man fühle sich ver­meind­lich vor­der­grün­dig woh­ler wenn man nicht auf­fällt, sich an­zu­pas­sen weiss. Aber er plä­diert stark fürs an­ders-sein. „Das ist viel span­nen­der!“

 

Über­haupt ist diese Ge­sprächs­run­de ins­ge­samt sehr who­le­so­me: immer wie­der fin­det man sich beim Punkt, das Kör­per nun­mal sehr ver­schie­den sind. Und wir das viel eher wert­schät­zen als pro­ble­ma­ti­sie­ren soll­ten. Oder, um Vi­say­sa­ne zu zi­tie­ren: „Wir sind alle gleich an­ders. Das ist ja das schö­ne.“

 

Zum Schluss fragt Rie­de­ner alle, was sie als Le­bens­mit­tel oder Menü gerne wären.

Weil: Hei­mat ist immer auch essen, wenn es um Kör­per geht so­wie­so.

 

Co­rin­ne Rie­de­ner: Suppe mit süs­sau­rem Ge­mü­se drin

Jana So­­phie Roost: Ra­clette (Fa­cet­ten­reich, viele Kom­bi­na­ti­ons­mög­lich­kei­ten)

Chri­s­toph Kel­ler: rich­tig guter, bun­ter Salat

Fa­bi­enne Luna Egli: Zwei­gän­ger: zu­erst Pizza Ha­waii, dann Him­bee­ren mit Va­nil­leglace

Ly-Ling Vilay­sa­ne: Maki-Su­shi­rol­le

24. Mai 2023, 17.57 Uhr

Gruss in die Küche

Ein wei­te­res kul­tu­rel­les Fes­ti­val-High­light war das Buf­fet. Herz­li­chen Dank an Luzia und ihr Team, die uns ku­li­na­risch rund um die Welt durch zwölf Län­der mit­na­men, von Li­taui­schen Kar­tof­feln über den be­rühm­ten Badi Speck-Kä­se­ku­chen bis zu pe­ru­a­ni­schem Lin­sen­sa­lat. Es war sehr gut.

24. Mai 2023, 17.55 Uhr

Wir sollten aufhören mit einem Heimatbegriff, der ausgrenzend ist

Text: Jo Glaus

Mögen Sie Ihren Namen? Haben Sie das Ge­fühl, Sie wür­den sich in einem an­de­ren Vor­na­men stär­ker zu Hause füh­len? Was für einen Ein­fluss hat die Spra­che auf Bin­dungs­mög­lich­kei­ten, wel­chen die Musik? Was ver­bin­det, was zer­teilt  und wie kom­men wir zu­ein­an­der zu­rück?

Sol­che und wei­te­re Fra­gen wur­den bei der Platt­form 1 «Hei­mat als Ge­fühl und Iden­ti­tät» mit Yvonne Apiyo Bränd­le-Amolo, Matt­hi­as Weis­haupt, Ho­seyn A. Zadeh und Peter Sur­ber be­han­delt.

Den Namen zu mögen, ist schwie­rig, wenn nie­mand ihn rich­tig aus­spre­chen kann. (Lek­tü­ren-Tipp: Das Kin­der­buch «Chry­san­the­mum») Er läuft einem vor­aus, das Kul­tur­gut her­aus­schrei­end. Man kann ihm nicht aus­wei­chen. Darum ist es wich­tig sich darin wohl und hei­misch zu füh­len.

Alle Be­tei­lig­ten der Dis­kus­si­on tra­gen meh­re­re Namen. Die von Kin­dern ver­pat­ze Ver­si­on und Ab­ge­kürz­ten Mit­tel­na­men, der alte Pfa­di­na­me «Kaa» nach der Schlan­ge aus dem Dschun­gel­buch, und die vie­len ver­schie­de­nen, aus den un­ter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Hei­maten.

Yvonne ist aus Liebe in die Schweiz ge­kom­men und aus Liebe in der Schweiz ge­blie­ben. Trotz allen Hin­der­nis­sen hat sie sich einen Weg ge­bahnt und ist Heute tätig als Ge­mein­de­rä­tin, in­ter­kul­tu­rel­le Me­di­a­to­rin und Ku­ra­to­rin.

Was ihr das Leben in der Schweiz zu be­ginn er­leich­ter­te: Sie hat Jo­deln ge­lernt. So konn­te sie die Brü­cke zu der ihr frem­den Kul­tur über ein ver­trau­tes Me­di­um schla­gen und Ähn­lich­kei­ten zwi­schen Schwei­ze­ri­scher und Ke­ni­a­ni­scher Kul­tur ent­de­cken.

Im Stamm der Luo (ni­to­lisch­spra­chi­ge Eth­nie am Vic­to­ri­a­see) wer­den die Men­schen mit ver­schie­de­nen be­deu­tungs­star­ken Namen be­nannt. Bei ihr ist einer davon Ro­set­ta, nach der Rock n’ Roll Ikone, wel­che Gren­zen über­schritt und Bar­rie­ren nie­der­schmet­ter­te. Oder Yvonnes Lieb­ling; Apiyo, die Pio­nie­rin, ge­erbt von ihrer Gross­mut­ter.

Die Viel­zahl der Namen hat auch eine prak­ti­sche Re­le­vanz, zum Bei­spiel bei der (po­ly­ga­men) Part­ner­su­che. Aus dem Namen kann man die fa­mi­li­ären Ver­hält­nis­se lesen, um zu ver­mei­den sich mit Ver­wand­ten zu li­ieren.

Ist es auch bei uns so, dass man aus einem Namen viel her­aus liest? Bevor man eine Per­son ken­nen­ler­net, gibt es schon eine erste Bar­rie­re, wel­che zu ste­reo­ty­pi­sie­ren­den Schluss­fol­ge­run­gen füh­ren kann.

Bei einem Job-In­ter­view hat Yvonne eine sol­che Er­fah­rung ge­macht. Im War­te­zim­mer wurde sie mit Bränd­le, dem Nach­na­men des Ex-Man­nes auf­ge­ru­fen und trotz auf­ge­steck­ter Hand nicht wahr­ge­nom­men, weil sie ge­mäss den Wor­ten der Se­kre­tä­rin «nicht wie eine Yvonne Bränd­le aus­sieht.»

Die­ser (nicht so) sub­ti­le All­tags­ras­sis­mus ist keine Sel­ten­heit. Viele Men­schen haben lei­der die Ten­denz, hart und schnell zu wer­ten. Sind sol­che, in klei­ne Schub­la­den ein­sor­tier­te In­for­ma­ti­o­nen, ei­gent­lich gut fürs Gemüt?

Matt­hi­as Weiss­haupt, ein Schwei­zer Ur­ein­woh­ner und ehe­ma­li­ger Aus­serr­ho­der Re­gie­rungs­rat, be­kennt, dass das Ap­pen­zell keine spe­zi­fi­sche Kul­tur pflegt, in wel­cher man an­de­ren be­son­ders offen be­geg­net. Es sei die Ver­ant­wor­tung der Po­li­tik, diese Bil­dungs­lü­cken zu schlies­sen und die In­te­gra­ti­on, wie auch die Be­tei­li­gung zu för­dern. Die Tür zu einer an­de­ren Kul­tur ist nicht ein­fach be­tret­bar. Der Schlüs­sel liegt nicht in der Hand einer Ein­zel­per­son. «Wir sol­len auf­hö­ren mit einem Hei­mat­be­griff, der aus­gren­zend ist»

Was könn­ten wir be­wir­ken, wenn wir den Be­griff der Hei­mat nicht mehr als po­li­ti­sier­te Waffe nut­zen, son­dern als Basis, um alle Bür­ger*in­nen der Welt mit ihren Ei­gen­hei­ten zu ver­ei­nen? Klar ist: Dazu braucht es Lü­cken­sch­lies­ser*in­nen und Brü­cken­bau­e­r*in­nen.

Ho­seyn A. Zadeh zeigt in einem ty­po­gra­phi­schen Work­shop, wel­cher schon an mehr als 30 in­ter­na­ti­o­na­len und na­ti­o­na­len Ausstel­lun­gen statt­fand und nun auch an der Kul­tur­lands­ge­mein­de, eine neue Ver­bin­dungs­mög­lich­keit des per­sisch-ara­bi­schen mit dem la­tei­ni­schen Al­pha­bet.

Spra­che schafft Hei­mat. Seine Flucht aus dem Iran und das An­kom­men in der Schweiz waren ge­prägt von Ver­lust und Sehn­sucht. Er er­zählt von Stras­sen und Wän­den, die er ver­misst. Die aber gleich­zei­tig so­wieo nicht mehr so exis­tie­ren, wie er sich an sie er­in­nert. „Es gibt diese Stim­mung dort nicht mehr, so wie ich sie kann­te.“ Auch seine Freun­de ge­hö­ren nicht mehr in diese Stras­sen in Te­he­r­an, die er kann­te und moch­te. Sie  haben sich ver­streut. Trotz­dem hat er zum Be­griff Hei­mat eine po­si­ti­ven Ein­stel­lung.

«Eine rich­ti­ge Hei­mat habe ich nicht. Es ist je­den­falls kein fixer Ort. Ich bin dort zu­hau­se, wo meine Füsse auf dem Boden ste­hen»

Alle drei ver­ei­nen auf ihre Art Kul­tu­ren und Men­schen. In der Po­li­tik, in der Musik, im Schrei­ben und im Da­heim­sein.

 

Hei­mat­ver­lust

ln einer Stu­die von 2016 vom Stap­fer­haus Lenz­burg zeigt sich, dass mehr als die Hälf­te der Be­frag­ten Per­so­nen füh­len, ihre Hei­mat sei be­droht. lmmer mehr Men­schen fol­gen die­ser Be­we­gung der Ver­lu­st­angst, die aus re­le­van­ten und oft uni­ver­sel­len Quel­len stam­men, wie der Kli­ma­wan­del, po­li­ti­sche Kon­flik­te, Krie­ge, der Um­gang mit der Glo­ba­li­sie­rung.

His­to­risch be­trach­tet, wurde das Thema schon oft durch­ge­kaut. Schon immer gab es Kriegs­flüch­ti­ge oder aus re­li­gi­ösen Grün­den Ver­trie­be­ne. Durch diese Mi­gra­ti­onss­trö­me wur­den un­zäh­li­ge hei­mat­lo­se Men­schen in ver­schie­de­ne Län­der ge­schwemmt, die sich wie­der­um von der An­we­sen­heit die­ser neuen Kul­tu­ren in ihrer Hei­mat und na­ti­o­na­ler Iden­ti­tät be­droht fühl­ten. Die­ses Phä­no­men ver­brei­tet sich über­all. Die dar­aus re­sul­tie­ren­den Ak­ti­o­nen wer­den zum Bei­spiel durch die Mo­der­ni­sie­rungs­the­o­rie ge­recht­fer­tigt. So kann man die Schuld von sich wei­sen und das Pro­blem auf die en­do­ge­nen und zum Teil selbst­ver­schul­de­ten Fak­to­ren schie­ben.

Darum gibt es Or­ga­ni­sa­ti­o­nen wie Fron­tex; so stark ist das Be­dürf­nis ist, mit allen Mit­teln die Gren­zen ge­schlos­sen zu hal­ten. Auch wenn man den Blick zu an­de­ren Kon­ti­nen­ten wen­det, er­kennt man die­ses Mus­ter.

Der 45. Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten ge­wann mit dem Ver­spre­chen, er wolle eine Mauer bauen, um die Im­mi­gra­ti­on auf­zu­hal­ten. Die­ser Trend zieht sich über Län­der, in denen immer mehr kon­ser­va­ti­ve und sogar rechts­po­pu­lis­ti­sche Kräf­te ge­win­nen: Orban, der in Un­garn für zwei Jahre jeg­li­che Mi­gra­ti­on ver­bie­ten woll­te, Bra­si­li­ens Ausstieg aus dem UN-Mi­gra­ti­ons­pakt unter der Lei­tung von Bol­so­na­ro, John­son der das Mi­gra­ti­ons­sys­tem re­for­mier­te als Gross­bri­tan­ni­en aus der EU aus­trat und noch viele mehr.

Die Angst vor Hei­mat­ver­lust kann also, wenn sie in die falschen Hände gerät, als star­ke po­li­ti­sche Waffe miss­braucht wer­den. Ein Bei­spiel für diese Si­tua­ti­on ist die Durch­set­zung des Du­blin Ab­kom­mens der EU im Bezug zur tür­ki­schen Re­gie­rung. Die Tür­kei solle, als eines der wich­tigs­ten Tran­sit­län­der, Flücht­lin­ge bei sich be­hal­ten, so­dass sie bei einer An­fra­ge für Asyl in ein an­de­res eu­ro­pä­i­sches Land zu­rück­ge­schickt wer­den kön­nen. lm Ge­gen­zug dazu ver­lan­gen sie nebst Geld, auch Vi­sa­f­rei­heit in der EU. Letz­te­res wurde je­doch nicht um­ge­setzt. So er­höh­te sie den Druck, indem sie droh­te die Gren­zen zu öff­nen. Men­schen, die alles hin­ter sich ge­las­sen und ver­lo­ren haben wer­den also gegen Geld und po­li­ti­sche Frei­hei­ten ge­tauscht.

Wenn sie es doch bis in die Schweiz schaf­fen, und wir diese Hei­mat­lo­sen, nach einem kom­pli­zier­ten und lang­wie­ri­gen Pro­zess, über un­se­re Gren­ze las­sen, er­war­ten wir eine voll­kom­me­ne As­si­mi­la­ti­on von ihnen. Nur wenn sie ihre alte Iden­ti­tät, Kul­tur und somit den Rest ihrer Hei­mat los­las­sen, ge­wäh­ren wir ihnen, sich nie­der­zu­las­sen. Meis­tens be­da­rf es zwei bis drei Ge­ne­ra­ti­o­nen, um über­haupt wie­der Wur­zeln zu schla­gen. Die meis­ten Län­der haben eine man­geln­de Fä­hig­keit, mit den Kon­se­quen­zen von Wan­de­rungs­be­we­gun­gen und den damit ein­her­ge­hen­den frem­den sprach­li­chen, so­zi­a­len und kul­tu­rel­len Ele­men­ten fer­tig zu wer­den.

Wenn sich die Grup­pe der Men­schen, die kul­tu­rell an­ders ver­or­tet sind, ver­grös­sert, fühlt man sich fremd in der Ei­ge­nen Hei­mat, diese Grup­pen tei­len das Fremd­füh­len eben­so, da sie sich nicht als an­ge­nom­men emp­fin­den. Hier ent­ste­hen Span­nun­gen, die wir auch in ak­tu­el­len The­men, wie der Kopf­tuch­de­bat­te, er­ken­nen kön­nen. Ag­gres­si­ve Er­schei­nun­gen, wie "Gi­lets jau­nes" (Gelb­wes­ten) sind eben­so das Re­sul­tat sol­cher Ent­wick­lun­gen, wie An­ge­hö­ri­ge ver­schie­de­ner Re­li­gi­o­nen oder auch be­nach­tei­lig­te Kul­tu­ren, die sich nicht mehr ver­stan­den füh­len und zu ra­di­ka­len Grup­pen wer­den.

Diese Hei­mat­lo­sig­keit er­eig­net sich nicht nur auf der geo­gra­phi­schen Ebene. Es kann auch ein­fach ein Ver­lust des Zu­ge­hö­rig­keits­ge­fühls sein. Das Tempo un­se­rer di­gi­ta­li­sier­ten Ge­sell­schaft führt dazu, dass die An­zahl der be­trof­fe­nen Men­schen zu­nimmt.

Die Frage, wie wir als Ge­sell­schaft damit um­ge­hen wol­len, bleibt je­doch un­be­ant­wor­tet. Um uns die­ser an­zu­nä­hern, müs­sen wir uns in­ten­siv mit der The­ma­tik des Hei­mat­ver­lus­tes aus­ein­an­der­set­zen. Ein An­fang in die­sem Pro­zess kann das Ge­spräch über Hei­mat und ähn­lich re­le­van­ten Be­grif­fen sein.

Das Ein­wan­de­rungs­sys­tem und der Um­gang mit Im­mi­gran­ten sind noch of­fe­ne Bau­stel­len, hin­sicht­lich der Schaf­fung einer neuen Hei­mat. Es gilt, aus die­ser Viel­falt zu schöp­fen und ihre In­no­va­ti­on ge­ni­es­sen.

Als ge­gen­über­zu­set­zen­des Bei­spiel: Ka­na­da sieht Mi­gra­ti­on als Chan­ce und ver­sucht, das Zu­wan­de­rer-Po­ten­ti­al ma­xi­mal zu nut­zen. Somit wird es zu einem bun­ten mul­ti­kul­tu­rel­len Land, das vie­len Men­schen eine Hei­mat bie­ten kann. Dass es als mul­ti­kul­tu­rel­les Ein­wan­der­er­land vor­bild­lich funk­tio­niert, gibt uns eine neue Per­spek­ti­ve. So wird es mög­lich, ohne un­über­wind­ba­re ex­ter­ne Hür­den über­all eine Hei­mat zu schaf­fen.

Denn jeder Mensch hat ein Recht auf Hei­mat.

24. Mai 2023, 17.53 Uhr

Alles hat ein Ende nur die Wurst hat einen Ring-Kanton

Liebe Leser:innen

 

Wären sie lie­ber eine kräf­ti­ge Mi­ne­stro­ne oder ein de­ko­ra­ti­ves Erd­beer­tört­li? Ein Bier­fass­kut­schen-Kalt­blü­ter oder ein Zir­kus-Showpferd? Wären sie lie­ber für einen Monat kom­plett un­sicht­bar, oder in einem an­de­ren Kör­per? Wür­den sie lie­ber ara­bisch oder fin­nisch schrei­ben und spre­chen kön­nen? Hät­ten sie lie­ber den Schul­stoff aus den ers­ten 15 Jah­ren im­mern­och sor­tiert und Griff­be­reit im Kopf, oder die Fä­hig­keit, einen Apfel ein­hän­dig zu hal­bie­ren? Haben sie mehr In­ter­es­se an HTML oder an Forst­wirt­schaft? Wür­den sie lie­ber einen Küs­te­n­ab­schnitt be­nen­nen oder einen jun­gen Stier? Wie geht es ihnen Heute?

 

Vor­läu­fig ver­ab­schie­den wir uns als Re­dak­ti­on an die­ser Stel­le, denn die Kul­tur­lands­ge­mein­de 2023 neigt sich dem Ende zu. Aber: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat einen Ring-Kan­ton. Und das Ap­pen­zell liegt genau in die­sem Wurst-Ring. Und des­halb geht es viel­leicht ir­gend­wann doch wie­der wei­ter mit uns. Auch und ob­wohl diese Me­ta­pher wirk­lich schief ist. Wir wer­den sehen! Bis dahin: Viel Spass mit der drit­ten Aus­ga­be von HEIP. (Die­ses­mal erst Recht un­lek­to­riert. In der Fan­ta­sie ist jeder Feh­ler ein Trüf­fel und das Ganze ein edler Gra­tin.)

 

In die­sem Sinne en Guete, Liebe Grüs­se und Alles Gute, in allen mög­li­chen Hei­maten.

 

 

Julia Kubik, Re­dak­to­rin

24. Mai 2023, 17.49 Uhr

Was schützt der Heimatschutz überhaupt?

In­ter­view: Timo Züst


An der 113. Haupt­ver­samm­lung des Aus­serr­ho­der Hei­mat­schut-zes wähl­ten die Mit­glie­der eine neue Ob­frau: Irene Hoch-reu­te­ner. Die Kunst­his­to­ri­ke­rin ist seit 18 Jah­ren Teil des Vor­stands – und nun auch Prä­si­den­tin. An der Kul­tur­lands­ge­mein­de spricht sie über Bau­kul­tur. Und mit HEIP redet sie über Hei­mat-ge­füh­le, Stamm­tisch-Kri­tik und die Her­aus­for­de­run­gen der Ver­dich­tung.

Frau Hoch­reu­te­ner, was ist ei­gent­lich Hei­mat?

Eine phi­lo­so­phi­sche Frage.

Kommt drauf an, wie man sie be­ant­wor­tet.

Ich glau­be, Hei­mat ist in ers­ter Linie eine Emp­fin­dung. Zum 100-jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um des Aus­serr­ho­der Hei­mat­schut­zes im Jahr 2010 baten wir un­se­re Mit­glie­der um Fotos von ihrer «Hei­mat». Be­kom­men haben wir alles Mög­li­che: eine Katze auf einem Fens­ter­sims, ein Kiosk, ein klas­si­sches Ap­pen­zel­ler­haus, ein Ka­chel­ofen. Hei­mat im Sinne des Hei­mat­schut­zes be­ruht auf einem Kon­sens, be­tref­fend einer iden­ti­täts­s­tif­ten­den Kul­tur, einer Bau­kul­tur im Spe­zi­el­len.

Was wür­den Sie fo­to­gra­fie­ren?

Aus mei­ner Optik als Ob­frau des Hei­mat­schut­zes würde ich in eine Streu­sied­lung hin­ein fo­to­gra­fie­ren. Im Ide­a­l­fall wäre auf dem Foto ein altes Ap­pen­zel­ler­haus und ein neues, das die tra­di­ti­o­nel­le Bau­wei­se auf­greift und neu in­ter­pre­tiert, zu sehen.

Damit hät­ten wir den ers­ten Teil des Wor­tes «Hei­mat­schutz» kurz de­fi­niert. Was ist mit «Schutz»? Müs­sen wir un­se­re Hei­mat wirk-lich schüt­zen?

Davon bin ich fest über­zeugt.

Warum?

Ich spre­che hier na­tür­lich in ers­ter Linie von der Bau­kul­tur. Da braucht es einen ge­wis­sen Schutz vor mo­ne­tä­ren und in­di­vi­du­a­lis­ti­schen Mo­ti­ven. Gäbe es kei­nen Schutz, wür­den wir un­se­re Land­schaf­ten nach und nach ver­lie­ren.

Ur­sprüng­lich war der Hei­mat­schutz auch als Na­tur­schutz-or­ga­ni­sa­ti­on ge­grün­det wor­den. Spielt das noch eine Rolle?

Na­tür­lich. Hei­mat be­in­hal­tet immer auch die Land­schaft, die Natur und das Brauch­tum. Der Hei­mat­schutz ar­bei­tet heu-te mit den ei­gen­stän­di­gen Fach­ver­bän­den zu­sam­men. Mit Pro Na­tu­ra ver­kau­fen seit 1946 den Schog­gi­ta­ler. In die­sem Jahr geht der Erlös in die För­de­rung der Na­tur­viel­falt vor der Haus­tür. Die Trach­ten­ver­ei­ni­gung Was schützt der Hei­mat­schutz über­haupt?ging 1926 aus der Trach­ten- und Volks­lied­kom­mis­si­on des Hei­mat-schut­zes her­vor. Die Trach­ten­stu­be Teu­fen fei­er­te un­längst ihr 25 Jahr Ju­bi­lä­um. Die Raum- und Land­schafts­pla­nung ist nach wie vor ein Kern­the­ma. Und die­ses ist eng ver­bun­den mit der Nach­hal­tig­keit. Wir ste­hen voll hin­ter der Ener­gie­stra­te­gie des Kan­tons.

Teil die­ser Stra­te­gie ist die Nut­zung er­neu­er­ba­rer Ener­gi­en – zum Bei­spiel Wind. Wie denkt der Hei­mat­schutz über die Idee von Wind­rä­dern auf der Wal­degg?

Dazu kann ich noch nicht viel sagen. Die Be­ur­tei­lung von Wind­kraft-Pro­jek­ten ge­hört nicht zu mei­ner Kern­kom­pe­tenz. Wir wer­den uns des­halb si­cher auch mit den Na­tur­schutz­ver­bän­den ab­spre­chen und dann braucht es eine In­ter­es­sens­ab­wä­gung. Die für die Er­stel­lung eines Wind­ra­des not­wen­di­ge In­fra­s­truk­tur wie Fun­da­ti­o­nen, Stras­sen etc. soll­te man nicht un­ter­schät­zen. Das muss genau ge­prüft wer­den.

Wenn in­ner­halb der Bau­zo­ne und nach Vor­schrift ge­baut wird, ist die Bau­herr­schaft bei der Ge­stal­tung sehr frei. Bräuch­te es da eine an­de­re Hand­ha­bung? Oder ge­ne­riert das bloss zu viel Bü­ro­kra­tie?

Bü­ro­kra­tie ist wohl der falsche Aus­druck. Es braucht ein En­ga­ge­ment von den Ge­mein­den und ein Be­kennt­nis zur Bau­kul­tur. Teu­fen hat das FAOT – das ist schon viel. Ge­ra­de bei Pro­jek­ten aus­ser­halb der ge­schütz­ten Orts­bil­der könn­te die Be­ra­tung durch ein sol­ches Gre­mi­um ei­ni­ges be­wir­ken.

Si­cher haben Sie die Head­li­ne auch ge­le­sen: Eine Schweiz mit 11,4 Mio. Ein­woh­nen­den. Sie sol­len alle in den heu­ti­gen Bau­zo­nen Platz fin­den. Läuft es Ihnen da kalt den Rü­cken run­ter?

Nicht un­be­dingt. Ent­schei­dend ist hier das Raum­pla­nungs­ge­setz. Es legt fest, wie wo ge­baut wer­den soll. Bau­zo­nen eig­nen sich im Grund­satz für die Ver­dich­tung, die Land-wirt­schaft­zo­nen nicht. Die Er-schlies­sung des Streu­sied­lungs­ge­biets macht ei­gent­lich schon aus öko­no­mi­scher Sicht wenig Sinn. Da soll­te das Raum­pla­nungs­ge­setz nicht auf­ge­weicht wer­den. Und In­nen­ent­wick­lungs-kon­zep­te zei­gen re­gel­mäs­sig, dass die Dich­te in his­to­risch wert­vol­len Dorf- und Stadt­ker­nen in der Regel sehr hoch ist. Daher wer­den wir die Lö­sung für die dro­hen­de Woh­nungs­not nicht in den ge­schütz­ten Orts­bil­dern und nicht in den Streu­sied­lungs­ge­bie­ten fin­den.

Das klingt ein biss­chen nach Zwei­klas­sen-Ge­sell­schaft: Wenn man Glück hat, lebt man in einer Streu­sied­lung mit viel Platz. Sonst wird man «ver­dich­tet».

Das sehe ich über­haupt nicht so. Zum Glück sind wir Men­schen sehr un­ter­schied­lich: Die einen su­chen wirk­lich das Leben in der Streu­sied­lung. An­de­re schät­zen eine his­to­ri­sche Woh­n­um­ge­bung und wie­der an­de­re be­vor­zu­gen eine mo­der­ne Ei­gen­tums­woh­nung, die we­ni­ger Pfle­ge­auf­wand ver­spricht.

Da wären wir bei der «Kon­troll­funk­ti­on» des Hei­mat­schut­zes. Er ge­ni­esst nicht un­be­dingt den bes­ten Ruf. Oft wird von ihm als Ver­hin­de­rer ge­spro­chen. Spü­ren Sie viel von die­ser Kri­tik?

Ich nehme das ehr­lich ge­sagt nicht so wahr. Das gilt auch für meine Ar­beit bei der Denk­mal­pfle­ge, die die­sen Ruf ja teilt. Na­tür­lich: Wenn eine Bau­herr­schaft sich mit ihrem Pro­jekt wegen uns noch ein­mal aus­ein­an-der­set­zen muss, ist das im Mo-ment nicht ein­fach. Aber spä­ter sind sie uns auch oft dank­bar, weil das Pro­jekt deut­lich ver­bes­sert wer­den konn­te. Ich ver-mute, der Ruf der Ver­hin­de­rer stammt haupt­säch­lich von Stamm­tisch-Run­den. Dort spricht man halt eher sel­ten von den Er­folgs­ge­schich­ten.

Viel­leicht gibt man als Bau­herr­schaft auch nur un­gern zu, dass die An­sät­ze von «je­mand an­de­rem» zu einem bes­se­ren Re­sul­tat ge­führt haben.

Das ist mög­lich. Was bei die­ser Dis­kus­si­on oft ver­ges­sen geht, ist un­se­re kos­ten­lo­se Erst­be­ra­tung. Von ihr kann jeder pro­fi­tie­ren – inkl. einer all­fäl­li­gen Be­ge­hung vor Ort. Das ist eine tolle Dienst­leis­tung. Ein­spra­chen er­mög­li­chen es uns lei­der erst spät mit der Bau-herr­schaft ins Ge­spräch zu kom­men. Das­sel­be gilt für Pro­jek­te in der Bau­zo­ne, da schrei­ben wir kri­ti­sche Hin­wei­se zu­han­den der Bau­be­wil­li­gungs­be­hör­de. Damit ar­bei­ten wir mit an einer hoch­ste­hen­den Bau­kul­tur.

Ein ak­tu­el­les Thema des Aus­serr­ho­der Hei­mat­schut­zes sind die «neu­e­ren alten Bau­ten». Plum­pe Frage: Wurde nach 1930 über­haupt etwas ge­baut, das schüt­zens­wür­dig wäre?

In Aus­serr­ho­den viel­leicht etwas we­ni­ger als an­ders­wo (lacht). Nein, ernst­haft: Na­tür­lich gibt es Ge­bäu­de aus der Kriegs- und Nach­kriegs­zeit, die ar­chi­tek­to­nisch von gros­ser Be­deu­tung sind.

Viel­leicht den­ken wir in 100 Jah­ren auch an­ders über die «gru­si­gen» 60er- und 70er-Jahre-Häu­ser.

Das ist sehr gut mög­lich. Oft schen­ken wir die­sen Bau­ten wenig Be­ach­tung, so lange sie wie selbst­ver­ständ­lich hier ste­hen. Ein Bei­spiel wäre die Teuf­ner Post. Auch sol­che Funk­ti­ons­bau­ten haben durch­aus eine Ge­schich­te und tra­gen zum Orts­bild bei.

Ge­ne­rell wird heute aber schon eher ab­ge­bro­chen und neu ge­baut, statt in­ten­siv sa­niert.

Diese Ent­wick­lung macht uns Sor­gen. Wir fin­den es falsch, dass das Raum­pla­nungs­ge­setz den Er­satz­bau in der Land­wirt­schafts-zone ver­ein­facht hat. Na­tür­lich stimmt es, dass mo­der­ne Bau­ten im Un­ter­halt we­ni­ger Ener­gie ver­brau­chen. Aber dabei geht ver­ges­sen, dass ein be­acht­li­cher Teil der «Le­bens­emis­si­o­nen eines Hau­ses» be­reits beim Bau ent­ste­hen – an die 50 Pro­zent. Des­halb wei­sen his­to­ri­sche Häu­ser auch eine sehr gute Öko-Bi­lanz auf, nur schon wegen ihrer gros­sen Le­bens­dau­er. Und da die tra­di­ti­o­nel­len Häu­ser in un­se­rem Kan­ton aus Holz be­ste­hen, bin­den sie sogar noch CO2.

Also am bes­ten keine Neu­bau­ten?

Es wird immer Neu­bau­ten brau­chen. Ins­be­son­de­re im Hin­blick auf das Be­völ­ke­rungs­wachs­tum. Der Hei­mat­schutz ist nicht ge­ne­rell gegen neue Pro­jek­te – sie sind nötig und wich­tig. Es gibt viele Bei­spie­le für sehr gute und ar­chi­tek­to­nisch wert­vol­le Bau­ten, die in den letz­ten Jah­ren ent­stan­den sind. Aber bevor etwas ab­ge­ris­sen wird, soll­te genau hin­ge­schaut wer­den. Hier passt ein Zitat von Sa­lo­mon Schlat­ter (1858–1922), der 1922 für den Hei­mat­schutz das Büch­lein ‘Das Ap­pen­zel­ler­haus und seine Schön­hei­ten’ ver­fasst hat, doch sehr gut: «Prü­fet alles und be­hal­tet das beste.»

24. Mai 2023, 17.28 Uhr

Jedem seine Grenze

Text: Julia Kubik

Das The­a­ter­stück TRUCK STOP der mo­bi­len Er­zähl­the­a­ter­grup­pe Café Fu­er­te stoppt für einen Abend vor dem Zeug­haus

 Die Luft ist frisch, es dun­kelt ein, das Pu­bli­kum sitzt ge­spannt und in De­cken gehüllt, teil­wei­se noch mit „El Gato Mu­er­to“-Drinks in den Hän­den im Halb­kreis vor einem Weis­sen Mini-Last­wa­gen. Es geht los.

Tru­cker San­dro (Ste­fan Pohl) sitzt seit Wo­chen fest. Er hat sich schon häus­lich ein­ge­rich­tet. An Hans (To­bi­as Fend), dem eif­ri­gen Al­lein­herr­scher über einen klei­nen, un­be­deu­ten­den Grenz­über­g­ang, kommt kei­ner ein­fach so vor­bei. Aber als San­dro eines Tages beim Wä­sche auf­hän­gen ver­se­hent­lich den Grenz­ver­lauf ver­legt, kommt Gren­zer Hans völ­lig aus sei­nem Kon­zept. Wenn man eine Gren­ze ein­fach ver­schie­ben kann, was ist sie dann noch wert? Was gilt dann über­haupt noch? Die Gren­zen zwi­schen den bei­den Män­nern ver­schie­ben sich zu­neh­mend.

Das Stück be­ginnt di­rekt sehr ener­ge­tisch mit einem neu­ro­ti­schen An­fall von Hans. Lei­den­schaft­lich und aus­ser sich springt er auf und ab und er­klärt die Schön­heit und Not­wen­dig­keit von Gren­zen. Sie seien „Zeich­nun­gen in der Natur“, „schüt­zens­wert“ und „wun­der­schön.“ San­dro hat kein Ver­ständ­nis dafür. Er sieht in der Be­haup­tung von Gren­zen eher die to­ta­le Sinn­lo­sig­keit. Es wird schnell klar: Hier geht es ums Ganze. Lan­des­gren­zen als of­fen­sicht­li­cher Ein­stieg füh­ren bald zu al­ler­lei in­di­vi­du­el­len, mo­ra­li­schen und phi­lo­so­phi­schen Gren­zen. Wäh­rend Hans um jeden Preis ver­mei­den will, das San­dro „sei­ne“ Orts­gren­ze über­tritt, Kann San­dro es nicht er­tra­gen, das Hans es wagt, in sei­nen Truck ein­stei­gen zu wol­len, ohne zuvor seine Stie­fel aus­zu­zie­hen.

Es ist ein sehr ab­wechs­lungs­rei­ches und viel­sei­ti­ges Stück: Slap­stick-Mo­men­te wech­seln sich mit Me­lan­cho­li­schem und In­ti­mem ab. Hans te­le­fo­niert immer wie­der mit sei­ner Toch­ter „Prin­zes­sin“, San­dro mit sei­ner Mut­ter. Beide sehr auf­ge­regt und um das Wohl ihrer Nächs­ten be­sorgt. Aus­ser­dem er­fährt San­dro, das die Frau von Hans schon seit län­ge­rem in einem „Töp­fer­kurs in Sar­di­ni­en ist, wo sie krum­me Vasen gatscht“ und nutzt diese In­for­ma­ti­on, um Hans‘ Heile-Welt-Selbst­be­haup­tung kri­tisch zu hin­ter­fra­gen.

In kür­zes­ter Zeit wer­den sämt­li­che gros­sen The­men des Mensch­seins wie Ein­sam­keit, Liebe, Sehn­sucht, Schmerz, Fa­mi­lie und Frei­heit ver­han­delt. Da­zwi­schen gibt es viel Si­tua­ti­ons­ko­mik und Kon­flik­te, die immer ab­sur­de­re Haken schla­gen. Be­glei­tet wird das ganze vom vir­tuo­sen Mu­si­ker Phil­ipp Lingg (auch be­kannt aus der Band Hol­stuon­ar­mu­sig­big­band­club, die 2010 mit dem Lied Vo Mello bis ge Schoppor­nou im Vor­arl­ber­ger Di­a­lekt einen Ös­ter­rei­chi­schen Chart-Hit lan­de­ten) an Gi­tar­re, Ak­kor­de­on und Ge­sang. Manch­mal sin­gen sie auch alle zu­sam­men.

 

TRUCK STOP ist ein sinn­li­ches Ge­sam­ter­eig­nis und nicht nur in­halt­lich, son­dern auch for­mal immer wie­der über­ra­schend. Gross­flä­chi­ge Pro­jek­ti­o­nen auf dem Truck bil­den eine zu­sätz­li­che vi­su­el­le Ebene. Mal sind es eher ab­s­trak­te Ani­ma­ti­o­nen, mal sehr wahr­heits­ge­mäs­se Nach­bil­dun­gen von Fern­seh-Quiz­shows.

 

Ge­schrie­ben hat das Stück To­bi­as Fend, Regie ge­führt hat Da­ni­elle Fend-Strahm. Für die Sze­no­gra­fie war Ronja Sva­ne­borg ver­ant­wort­lich, as­sis­tiert hat Na­di­ne Schütz.

 

Am Ende wer­den die Gren­zen zwi­schen den Män­nern etwas ge­lo­ckert, was unter an­de­rem mit einer Dose To­ma­ten­sup­pe zu tun hat. Mehr soll­te an die­ser Stel­le aber nicht ge­spoi­lert wer­den. Ein Li­ve­be­such lohnt sich. Die bal­di­gen Spiel­da­ten sind auf ca­fe­fu­er­te.at zu fin­den.

24. Mai 2023, 17.25 Uhr

Sehnsucht an der Theke

Text: Jo Glaus


Beim Ein­tre­ten durch schwe­re Vor­hän­ge in
einen klei­nen Schup­pen schwappt einem schon eine Duft­wel­le von Ze­dern­holz, Zi­trus­no­ten und Yuzu ent­ge­gen. Sofort wird man in die klei­ne Bar hin­ein­ge­so­gen; in eine an­de­re Welt.
 

Mi­cha­el Bo­den­mann und Ba­r­ba­ra Si­g­ner (Bar­mann*frau und Mit­füh­rer*in  des Kunst­pro­jekts El Gato Mu­er­to) er­zählen davon, wie dieser Mi­kro­kos­mos ent­stand. 

Vor drei­ein­halb Jah­ren fand im Kul­tur­kon­su­lat eine Ausstel­lung zum Thema «Work Life Ba­lan­ce» statt. Im Rah­men des­sen kam die Idee auf, eine Bar zu ge­stalten. Zwei Wo­chen bevor die Co­ro­napan­de­mie aus­brach, wurde das Pro­jekt auf die Beine ge­stellt.  

So nahm die Bar schnell einen Stel­len­wert als Sehn­suchts­ort ein. Ein Raum, in dem die Zeit still steht, in dem es nur Ge­schich­ten, Ge­läch­ter, japa­ni­sches Bier und den Mo­ment gibt. In der Bar sticht das Fern­weh heute noch, auch wenn die Gren­zen wie­der offen ste­hen. 

Die Wände trop­fen nur so vor Er­in­ne­rungs­stü­cken, ei­ge­ne und frem­de Erfah­rungen in den le­ben­den Din­gen. Post- und Vi­si­ten­kar­ten, Sou­ve­nirs, aber auch per­sön­li­che Fo­to­grafien dar­un­ter ein Bild der Küche in Mi­chaels El­ternhaus, wel­che mit ihren reich be­stück­ten Wän­den an die Bar selbst er­in­nert 

Man fühlt sich, als würde man eine Wohnstube be­tre­ten 

Michael er­zählt von sei­ner Zeit in Japan und dass man dort sol­che engen, «struben» per­sön­li­chen Bars an jeder Ecke fin­det. Die In­spi­ra­ti­on ist klar nach­voll­zieh­bar. Von Ja­pa­ni­sche Kult- und Ac­tionfi­gu­ren, Fla­schen, ge­schmückt mit ja­pa­ni­schen Schrift­zei­chen, Schall­plat­ten und Mi­nia­tur­mo­del­len von Ge­bäu­den über die Aus­wahl der ser­vier­ten Ge­trän­ke, bis hin zur At­mo­sphä­re, zu­sam­men­ge­setzt aus einem Duft, der an ja­pa­ni­sche Ze­dern­holz­häu­ser er­in­nert, dem klei­nen Raum, wel­cher zum Ken­nen­ler­nen ani­miert und der Hin­ter­grund­mu­sik. 

Tat­säch­lich sind viele Er­in­ne­rungs­stü­cke aus ihrer Zeit in Japan dabei. Die Bar ist je­doch nicht län­der­spe­zi­fisch auf­ge­baut. El Gato Mu­er­to prangt stolz auf einem Leucht­schild über der >span class="Nor­mal­T­ex­tRun SCX­W841118 BCX2">. Die­ses hat Mi­cha­el von sei­nen Rei­sen in Ar­gen­ti­ni­en mit­ge­bracht.  

Ge­wis­se Kunst­wer­ke sind extra für die Bar an­ge­fer­tigt wor­den, sei das von Zür­cher Künst­lern oder beschwips­ten Gäs­ten. Wei­te­re Ob­jek­te er­zäh­len die Ge­schich­te der Bar selbst. Ein fest­lich ein­ge­rahm­ter Schlüs­sel er­in­nert an den letz­ten (il­le­gal) be­setz­ten Stand­ort. Bil­der­rei­hen an wei­te­ren Stand­orten zei­gen die ver­schie­de­nen Ge­sich­ter der wan­dern­den Bar. 

El Gato Mu­er­to bleibt nicht lange an einem Ort. Die Bar zieht umher, auch über die Lan­des­gren­zen hin­aus und be­glückt Men­schen an den ver­schie­dens­ten Orten. Sie sta­gniert nicht, sie wan­delt sich je nach ar­chi­tek­to­ni­schem Raum und in­di­vi­du­el­lem Um­feld. Nie ist sie an­onym, son­dern un­er­schro­cken intim. So ist und bleibt sie un­kon­su­mier­bar 

Für die Gäste kann sie mit ihrem engen Raum eine Platt­form zur In­ter­ak­ti­on mit an­de­ren Gäs­ten und Bar­kee­per*in­nen, mit den Ob­jek­ten und deren Ge­schich­ten, wie schlus­s­end­lich auch mit sich selbst füh­ren. So wird sie zu einem klei­nen «Sa­fe­space», einer Zeit­kap­sel, in der man ein­fach mal sein darf.  

Die Bar ist immer be­dient. Sie ist also kein stil­les Kunst­werk, eher eine Mi­schung aus Per­for­mance- Art, sze­no­grafischer In­ter­ak­ti­ons­flä­che und Ge­schich­ten­stät­te.  

Nicht nur die Er­in­ne­rungs­stü­cke er­zäh­len Ge­schich­ten. Die Bar füllt sich auch mit jedem Be­such wei­ter, mit An­ek­do­ten, neuen «Knick-Knacks» und Musse. 

Diese Bar ist für Ba­r­ba­ra und Mi­cha­el ein Stück Hei­mat, wel­ches sie immer wie­der an neuen Orten auf­bau­en kön­nen. Eine fremd­be­kann­te Par­al­lel­welt. 

Ich kann nur emp­feh­len: ein­tre­ten, an­stos­sen und an­kom­men. 

24. Mai 2023, 17.21 Uhr

Kunst aus der Agglo

Liebe Le­ser*in­nen

Apro­pos Hei­mat: es würde mich in­ter­es­sie­ren, wie die Kunst von Schwei­zer Künst­ler*in­nen aus­sä­he, wenn sie für eine Sai­son mal nicht in auf­re­gen­den Welt­städ­ten Ate­liers­ti­pen­di­en be­kä­men, son­dern in Wit­ten­bach, Wolf­hal­den und Heer­brugg. Sie hät­ten dort zwar auch Ate­liers, aber nicht in den auf­re­gen­den Künst­ler:in­nen­vier­teln son­dern in Rand­ge­biet-Mehr­fa­mi­li­en­häu­sern, und die ein­zi­ge of­fi­zi­el­le Be­zugs­per­son wäre der/die Aus­zu­bil­den­de im nächst­ge­le­ge­nen Ge­mein­detzen­trum. Was hätte das für in­halt­li­che und for­ma­le Aus­wir­kun­gen auf die Kunst? Und auf die Orte?

Span­nen­de Fra­gen, aber hier in die­ser Aus­ga­be ei­gent­lich über­haupt nicht das Thema. Son­dern: Bar, The­a­ter, Hei­mat­schutz! Der Frei­tag neigt sich dem Ende zu, der Sams­tag ist nah. Pro­gramm kommt, Pro­gramm geht, HEIP bleibt. Alles Gute und auf Bald!

 

PS: evt. ist es ihnen bei Aus­ga­be 1 schon auf­ge­fal­len: wir haben (aus Zeit und Ko­or­di­na­ti­ons­grün­den) in der HEIP-Re­dak­ti­on kein Lek­to­rat, und des­we­gen wo­mög­lich ei­ni­ge Schreib­feh­ler im Blatt. Sie dür­fen diese gerne cool igno­rie­ren oder sich herz­lich dar­über auf­re­gen, ganz wie Sie möch­ten.

 

Julia Kubik, Re­dak­ti­on

24. Mai 2023, 17.16 Uhr

Die Gemüsesuppe meiner Familie

Text: Jo


Kurz zum Kür­zel Jo: Ich, Jo­han­na Glaus, wurde seit mei­nem Stu­dien­be­ginn in Basel (Geo­gra­fie und Eth­no­lo­gie) um­be­nannt.

So star­te­te ich mein Leben in der für mich ge­wal­ti­gen Stadt mit einem kom­plet­ten Neu­an­fang.

Auf­ge­wach­sen bin ich im kon­ser­va­ti­ven Dorf Muri AG. Ich konn­te dort nie rich­tig Wur­zeln schla­gen und wuchs schnell aus den Gren­zen mei­nes Hau­ses her­aus. An den Wo­chen­en­den flüch­te­te ich mich in ein be­nach­bar­tes Dorf, in wel­chem ich das erste Mal mit Mi­gra­ti­ons­a­r­beit in Kon­takt kam. Diese präg­te mich und meine Zu­kunfts­wün­sche. Schon bald wuss­te ich, dass ich wei­ter­hin in die­sem Um­feld ar­bei­ten woll­te.

Mit 16 flog ich in das Ber­ner Ober­land aus. Dort ver­brach­te ich ein Jahr im In­ter­nat École d’Hu­ma­nité. Mit sei­nen re­form­päd­ago­gi­schen An­sät­zen, den in­ter­na­ti­o­na­len Schü­lern und der fri­schen Ber­g­luft, er­öff­ne­te es mir eine neue Welt und mein ju­gend­li­cher Selbst­fin­dungs­pro­zess setz­te sich fort.

Das be­gon­ne­ne Gym­na­si­um schloss ich im Aar­gau ab. Auch dort stiess ich immer wie­der auf The­men, wie Mi­gra­ti­on, und im Rah­men mei­ner frei­wil­li­gen Ar­beit, auf In­ter­na­ti­o­na­le Ent­wick­lungs­zu­sam­me­n­a­r­beit.

Aus den ge­sam­mel­ten Er­fah­run­gen der Men­schen, mit denen ich in die­sem Rah­men zu­sam­men­traf, und mei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen, ge­wann das Wort Hei­mat immer mehr an Re­le­vanz.

Als die Ma­tu­ra­a­r­beit an­stand, war mir klar, dass ich die Be­deu­tung, wel­cher die­ser Be­griff in (mei­nem) Leben hat, wei­ter ver­tie­fen woll­te. So ent­stand meine Ar­beit, ein bun­ter Aus­tausch mit ver­schie­de­nen Men­schen, eine vor­läu­fi­ge De­fi­ni­ti­on und ein Pod­cast aus span­nen­de Ge­sprä­chen.

Es wurde mir be­wusst, wie viele Men­schen im Ver­lauf ihres Le­bens einen Hei­mat­ver­lust er­lei­den. Sei das durch tat­säch­li­che Orts­wech­sel, den Tod eines ge­lieb­ten Men­schen, den Ver­lust eines Kul­tur­gu­tes oder eines an­de­ren Aspekts  des per­sön­li­ches Hei­mat­mo­sa­iks.

Die­ser Ver­lust ver­leiht oft ein tie­fe­res Be­wusst­sein für das Thema Hei­mat. So Habe ich für mich her­aus­ge­fun­den, wie wich­tig es ist, in­ner­lich, sowie im ge­gen­wär­ti­gen Mo­ment Raum zu schaf­fen, so­dass man sich selbst ein Zu­hau­se sein kann.

Die­sen Pro­zess habe ich noch nicht voll­en­det. Bis dahin finde ich meine Hei­mat in mei­nen liebs­ten Bü­chern und Me­lo­di­en, in der Mor­gen­son­ne, unter den Bäu­men und in der Ge­mü­se­sup­pe mei­ner Fa­mi­lie.

24. Mai 2023, 17.13 Uhr

Eigentlich finde ich Heimat vorallem in Freundschaften, Kulturprodukten und zufälligen Momenten, hier trotzdem ein Text über Herkunfts-Heimat

Text: Julia Kubik


Auf­ge­wach­sen bin ich in Buchs, Wahl­kreis Wer­den­berg, Re­gi­on Rhein­tal, Kan­ton St.Gal­len. Heute, seit über 10 Jah­ren in der Stadt St.Gal­len woh­nend, sag ich meis­tens nur „Rhein­tal“ oder „Chan­cen­tal“(ehe­ma­li­ger Stand­ort-Wer­bes­lo­gan, den viele (Ex-)Rhein­ta­ler:innen hal­b­i­ro­nisch be­nut­zen)wenn mich je­mand fragt, woher ich bin. Es ist in­ter­es­sant zu be­ob­ach­ten, was dann beim Ge­gen­über pas­siert. Meis­tens wird in die­sem Mo­ment mit einer Er­war­tung ge­bro­chen, weil: ich be­we­ge mich haupt­säch­lich in (eher ur­ba­nen) Kunst und Kul­tur-Krei­sen, kann weder Au­to­fah­ren noch ver­tra­ge ich viel Al­ko­hol, hab keine nen­nens­wer­ten Hand­werk­li­chen oder Sport­ver­eins­mäs­si­gen Skills, und einen er­kenn­ba­ren Di­a­lekt hab ich auch nicht, resp. die Rück­stän­de davon haben sich mit der Zeit immer mehr ver­wa­schen. Manch­mal wird dann ge­sagt: „Ah krass, me merkts der gar­nöd aa.“ Das Rhein­tal ge­ni­esst aus­ser­halb sei­ner selbst kei­nen be­son­ders guten Ruf. Es ist be­kannt als rus­ti­ka­le Ge­gend, von In­dus­trie und Land­wirt­schaft ge­prägt, un­schö­ne Ein­fa­mi­li­en­haus-Dör­fer die sich ohne rich­ti­ges Zen­trum an tris­ten Stas­sen ent­lang­zie­hen, schrof­fer Men­ta­li­tät und rau­hem Di­a­lekt. Ein­mal sagte mir einer, den ich erst seit ca. 5 Mi­nu­ten kann­te, bei einer Party in St.Gal­len: „Krass. S’R­hintl isch wie d’USA. Über­all mueme mitem Auto ane und d’Lüt sind vill Gwalt­be­rei­ter. Es isch de rust belt vode Schwiz.“ Ich fand das zwar lus­tig, aber auch ziem­lich über­trie­ben. Zwar gehe ich bei fast allen ne­ga­ti­ven Rhein­tal-Vor­ur­tei­len mit, kann mir nicht vor­stel­len, je­mals wie­der dort­hin zu­rück­zu­zie­hen und bin mit 17 re­la­tiv über­stürzt und ent­schlos­sen weg­ge­zo­gen.  (Wenn auch, zu­ge­ge­ben, St.Gal­len nicht rich­tig weit weg ist) Aber mit zu­neh­men­der Di­stanz sehe ich auch kla­rer, was ich dort moch­te. Und ei­ni­ge Dinge ver­mis­se ich. Die Weite der Land­schaft, das brei­te Tal, das Ge­fühl von Platz und Aus­sicht in alle Rich­tun­gen, ob­wohl man von Ber­gen um­ge­ben ist. Die wil­den und weit­läu­fi­gen Teile der Natur. Ein paar sehr liebe Men­schen. Die Stör­che im Riet, die Kies­däm­me am Rhein, die vie­len be­kann­ten Wege und Plät­ze. Den spe­zi­el­len Humor, den das Leben in der Pro­vinz bei man­chen Leu­ten mit der Zeit her­aus­schleift. Über­haupt: der Witz, der in der Spra­che steckt. Viel­leicht wür­den mir das Leute, die nicht da auf­ge­wach­sen sind auch ab­spre­chen(weil wie­ge­sagt: gröss­ten­teils un­be­lieb­ter, rau­her Di­a­lekt), oder als Ver­klä­rung abtun. Aber ich kann nichts da­ge­gen tun, das ich mich freue, und oft amü­sie­re, wenn ich den Di­a­lekt wie­der höre. Er trans­por­tiert ein Le­bens­ge­fühl, das ich schlecht mit Wor­ten be­schrei­ben kann, aber emo­ti­o­nal immer wie­der daran an­knüp­fe. In klei­nen Dosen und mit dem Wis­sen, je­der­zeit wie­der weg­ge­hen zu kön­nen. Long Story short: Beim Ge­dan­ken an rechts­kon­ser­va­ti­ve Po­li­tik, Fas­nachts­bei­zen, Sau­fen und Sport als ein­zig vor­stell­ba­re Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen, Hells An­gels, Schüt­zen­ver­ei­ne, Au­to­fi­xie­rung und Ge­walt­be­reit­schaft gru­selt mir, und ich bin froh, dort nicht mehr zu woh­nen. Aber wenn ich mit der S-Bahn rich­tung Buchs fahre, das Tal sich wei­tet, und das alte, ex­trem bau­fäl­li­ge Buch­ser Kies­werk hin­ter dem (sehr häss­li­chen)Bahn­hof ins Blick­feld tritt, wird mir warm ums Herz. Und dann spa­zie­re ich zu ir­gend­wel­chen ver­trau­ten Orten, in der Hoff­nung, ein­paar kau­zi­ge Lo­cals er­zäh­len ge­ra­de eine lus­ti­ge Ge­schich­te, und ich kann mich spon­tan da­zu­set­zen.

24. Mai 2023, 17.08 Uhr

Mitteilung: Das HEIP-Logo wurde von Sophia Freydl gestaltet

So­phia ist frei­schaf­fen­de Il­lus­tra­to­rin. Nach ihrer Erst­aus­bil­dung als Gra­fi­ke­rin, hat sie an der Hoch­schu­le Lu­zern Il­lus­tra­ti­on Fic­tion stu­diert. Sie wohnt in Wald Ar und ar­bei­tet neben der Il­lus­tra­ti­on als Ver­käu­fe­rin in der Wein­hand­lung Son­de­r­eg­ger Weine in Hei­den.

 

www.so­phi­af­reydl.ch

19. Mai 2023, 12.46 Uhr

Ist das unsere neue Heimat?

Text:Jo Glaus

Hei­mat: Wir alle ken­nen und nut­zen die­sen Be­griff, doch gibt es eine wirk­li­che De­fi­ni­ti­on, eine all­ge­mei­ne Be­deu­tung zu die­sem in­di­vi­du­el­len Ge­fühl, das wir zu Hause sein nen­nen? Im­mer­wie­der kommt die Rede auf Hei­mat, wenn man sich von je­man­dem ver­ab­schie­det, um nach Hau­se­zu gehen, als Wer­bes­lo­gan für einen lo­ka­len Su­per­markt, in einer Dis­kus­si­on über Ein­wan­de­rung und so wei­ter. Die­ses Wort fällt einem schnell aus dem Munde, ob­wohl die we­nigs­ten sagen kön­nen, was Hei­mat wirk­lich für sie be­deu­tet. Es gibt kaum einen so un­de­fi­nier­ba­ren und viel­sei­ti­gen Be­griff, wie die­sen in der deut­schen Spra­che. "Hei­mat ist ein ver­min­tes Ge­län­de, ein kon­ta­mi­nier­tes Feld -in ihrem Namen wurde dis­kri­mi­niert und ge­mor­det, ge­schützt und ge­ret­tet." (Hei­mat -zwi­schen Für­sor­ge und Ver­bre­chen, 2017)Und doch hat die­ser Be­griff eine un­glaub­li­che Re­le­vanz er­langt im An­ge­sicht der zahl­rei­chen glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen, die uns zur­zeit be­vor­ste­hen. Das Ge­spräch­über Hei­mat ist längst über­fäl­lig. Vor allem in Kri­sen­si­tua­ti­o­nen, müs­sen wir auf die­ses Ge­fühl zu­rück­grei­fen, um uns vor einem Hei­mat­ver­lust zu be­wah­ren und ler­nen, wie wir es­prä­ser­vie­ren kön­nen, ohne dabei der­Xe­no­pho­bie zu ver­fal­len. Die Glo­ba­li­sie­rung hat eine Flut­wel­le neuer Mög­lich­kei­ten mit­ge­bracht und einen Teil der so­wohl ein­schrän­ken­den wie auch schüt­zen­den Bar­rie­ren mit­ge­schwemmt. Wie kann man in die­sem, sich ra­pi­de ent­wi­ckeln­den Zeit­al­ter Hei­mat fin­den? Wenn all diese Gren­zen neu ge­setzt wer­den müs­sen, und die Si­cher­heit nicht nur durch die Menge an ne­ga­ti­ven Nach­rich­ten, son­dern auch durch Reiz­über­flu­tung im In­ter­ne­tein­ge­schränkt wird, ist es schwie­rig ein Ge­fühl von Hei­mat zu er­lan­gen.

De­fi­ni­ti­on
Hei-mat, die
Be­deu­tun­gen:
-Land, Lan­des­teil oder Ort, in dem man ge­bo­renund auf­ge­wach­sen ist oder sich durch stän­di­gen Auf­ent­halt zu Hause fühlt (oft als ge­fühls­be­ton­ter Aus­druck enger Ver­bun­den­heit ge­gen­über einer be­stimm­ten Ge­gend)
-Ur­sprungs-, Her­kunfts­land eines Tiers, einer Pflan­ze, eines Er­zeug­nis­ses, einer Tech­nik

Das ist die De­fi­ni­ti­on, die man of­fi­zi­ell im Duden fin­det, und was wahr­schein­lich auch was dem Durch­schnitts­bür­ger durch den Kopf geht, wenn er an Hei­mat denkt. Sehen wir uns die Über­set­zung die­ses Be­grif­fes auf Eng­lisch oder Fran­zö­sisch an, wird er stark ver­ein­facht. So­wohl home als auch pa­trie sind viel ein­deu­ti­ge­re Wör­ter als un­se­re deut­sche Hei­mat. Auch in deren of­fi­zi­el­len Duden geht es bei die­sen Be­grif­fen eher um das Haus, in dem man wohnt, oder das Va­ter­land.Je­doch ist­Hei­ma­tein viel­fäl­ti­ger und wan­del­ba­rer Be­griff, der in un­se­rer Ge­schich­te schon gross ge­lobt und oft­miss­braucht wurde.Jeder hat eine an­de­re Ant­wort auf die Frage: Was be­deu­tet Hei­mat für dich? Dar­un­ter wie­der­ho­len sich Be­grif­fe wie das Va­ter­land, das El­tern­haus oder die Fa­mi­lie, ob man sich diese aus­ge­sucht hat, oder hin­ein­ge­bo­ren wurde. Doch auch Re­li­gi­on, Kul­tu­ren, Kunst und Essen kön­nen ein Hei­mat­ge­fühl her­vor­ru­fen. Eines haben all diese Ant­wor­ten ge­mein­sam, und dar­aus kön­nen wir un­se­ren ers­ten und wich­tigs­ten Schluss zie­hen.Hei­mat ist Bin­dung.

Es ist die Art von Bin­dung, die nur der Mensch zu einem Sub­jekt oder Ob­jekt auf­bau­en kann und die für ein Si­cher­heits-und Ge­bor­gen­heits­ge­fühl sorgt. Eine emo­ti­o­na­le Bin­dung er­stellt man au­to­ma­tisch zu einem Ob­jekt, das eine Kon­stan­te dar­stellt im ei­ge­nen Leben und da­durch eine viel tie­fe­re Be­deu­tung er­langt. Es ist die Bin­dung, die das Stoff­tier der Kind­heit zu einem fast schon un­ver­zicht­ba­ren Ge­fähr­ten mach­te, aber auch die Bin­dung, die man zu sei­nem Zim­mer und sei­nen Ka­me­ra­den­auf­baut. Was einst eine evo­lu­ti­o­näre Über­le­ben­s­tak­tik war, ist nun eine für uns nutz­ba­re Quel­le, um Be­hei­ma­tun­gen zu er­schaf­fen. ln an­thro­po­lo­gi­scher Hin­sicht zeigt die ge­schicht­li­che Cha­rak­te­ri­sie­rung des Hei­mat­be­griffs das Be­dürf­nis nach Raum­o­ri­en­tie­rung, ent­spre­chend einem Ter­ri­to­ri­um bei Tie­ren. Die­ses Si­cher­stel­len der Exis­tenz, führt also zu einem Bin­dungs­ge­fühl, wel­ches­wir be­wah­ren wol­len. Heute noch su­chen Men­schen ein ab­ge­si­cher­tes Leben. So kön­nen wir auch den nächs­ten Schluss zie­hen, Hei­mat kor­re­liert stark mit Si­cher­heit, sei dies auf der Ebene der Grund­be­dürf­nis­se, oder auf po­li­ti­scher und so­zi­a­ler Ebene.Die Ent­ste­hung von Hei­mat, be­ginnt be­reits in der Kind­heit. Von dem Mo­ment an, in dem man in die Welt hin­aus­ge­setzt wird, hält man sich an Ori­en­tie­rungs­punk­ten fest. Dazu zäh­len zum Bei­spiel die Fa­mi­lie, be­zie­hungs­wei­se die Men­schen, von denen man um­ge­ben ist, die Spra­che oder auch der Ort, an dem wir ge­bo­ren wur­den. ln die­sen Punk­ten kön­nen wir oft die uns am stärks­ten prä­gen­den Hei­mat­fak­to­ren wie­der­er­ken­nen. Bil­dung ist hier­bei eine wich­ti­ge Grund­la­ge, um auch die Kon­kre­ti­sie­rung die­ser ein­zel­nen Fak­to­ren durch die Ge­schich­te zu ver­ste­hen und ihre his­to­ri­sche Be­deu­tung zu er­ken­nen. Somit eig­nen wir uns in­di­vi­du­ell im Ver­lauf un­se­rer Ent­wick­lung, ge­prägt durch Um­welt, Bil­dung und Er­fah­run­gen eine Hei­mat an, Diese Bin­dun­gen wer­den unser Leben lang­wei­ter­ge­führt und aus­ge­baut. Es ist je­doch auch mög­lich, einen die­ser Be­zugs­punk­te zu ver­lie­ren. Hei­mat, die­ses Wort ist uns allen meist als po­si­ti­ver Be­griff be­kannt, doch ihn als sol­chen zu de­fi­nie­ren, würde von der Re­a­li­tät ab­wei­chen. lm Namen der Hei­mat wurde ge­mor­det und dis­kri­mi­niert. Oft wurde die­ser hoff­nungs­schwan­ge­re Be­griff zur Waffe um­funk­tio­niert. Es gibt kaum ein bit­ter­sü­ße­rer Be­griff als Hei­mat. Hei­mat funk­tio­niert in den Kampf­pa­ro­len von xe­no­pho­ben Rechts­po­pu­lis­ten ge­nau­so gut, wie auf der kit­schi­gen Tür Matte, die ein­lädt ein­zu­tre­ten. Hei­mat ist ein men­ta­ler Ge­schmacks­ver­stär­ker für frag­wür­dig bil­li­ge Le­bens­mit­tel, die ga­ran­tiert nicht aus eben die­sen öko­lo­gisch in­tak­ten Idyl­len­stam­men, die sie als Wer­be­bild be­nut­zen.Der Be­griff der Hei­mat ist ein wan­del­ba­rer Platz­hal­ter für Sehn­süch­te, die man nicht an­ders be­schrei­ben kann. Das macht eine all­ge­mein­gül­ti­ge De­fi­ni­ti­on schwie­rig. ln phi­lo­so­phi­scher Hin­sicht kann Be­hei­ma­tung auch als Pro­zess der Welta­n­eig­nung ver­stan­den wer­den, durch den der Mensch immer und über­all eine für ihn frem­de, un­wirt­li­che Welt in ein Zu­hau­se ver­wan­delt. So kann man die Hei­mat auch als ein Ar­beits­pro­zess ver­ste­hen."Man ist nicht nur Kind sei­ner Hei­mat, die Hei­mat wird einem auch zum Kind. Und so, wie man die­ses nicht nur hatund sich dar­aner­freut, trögt man auch die Ver­ant­wor­tung dafür. Wo Bin­dung ist, ist Ver­ant­wor­tung. (Karin Bran­dau­er, zi­tiert in Hei­mat 2020)Hei­mat ist also nicht nur unser Schutz und Be­zugs­ort, son­dern sie ist ver­wund­bar und soll­te aktiv auf­recht­er­hal­ten wer­den. Bin­dun­gen blei­ben nur dann stark, wenn man sie pflegt. Mensch­li­che Be­zie­hun­gen, das Füh­ren eines Haus­hal­tes, das Lesen einer Lek­tü­re,das Be­su­chen einer Kir­che, all diese Dinge müs­sen aus­ge­führt und ge­pflegt wer­den. Sie kön­nen dafür die Si­cher­heit und Ein­ge­bun­den­heit in diese Welt für uns auf­bau­en.

Die ein­zi­ge De­fi­ni­ti­on, die ich schlus­s­end­lich all­ge­mein hin­stel­len kann, ist, dass Hei­mat eine Be­gleit­er­schei­nung einer star­ken Bin­dung ist, die eine Ge­bor­gen­heit und ein Si­cher­heits­ge­fühl aus­löst. Zu wel­chem Be­zugs­punkt diese Bin­dung be­steht, ist nicht re­le­vant.

Was löst das Ge­spräch über Hei­mat aus?
Warum spricht man so sel­ten über Hei­mat?
Sich Fra­gen dar­über zu stel­len, was die per­sön­li­che Be­deu­tung die­ses Be­grif­fes ist, kann der ei­ge­nen Psy­che ein star­kes Ge­rüst ver­lei­hen. Bei einem Um­bruch in einer Bio­gra­fie, wel­cher durch gros­se per­sön­li­che Er­schüt­te­run­gen auf­tre­ten kann, ent­fal­tet diese Selbst­be­fra­gung eine prak­ti­sche Be­deu­tung. Hier­bei bricht eine fun­da­men­ta­le Zu­ge­hö­rig­keit un­wie­der­bring­lich weg. ln sol­chen Si­tua­ti­o­nen er­weist es sich als hilf­reich, wenn man sich sei­nen ver­schie­de­nen Be­hei­ma­tun­gen ex­pli­zit be­wusst wird. Hei­mat kann sich näm­lich auf den ver­schie­dens­ten Ebe­nen zei­gen. Wenn man sich diese ver­ge­gen­wär­tigt, gibt man dem Ge­fühl der Hei­mat­lo­sig­keit we­ni­ger Macht. So ge­lingt einem zu­neh­mend die Re­la­ti­vie­rung der Ver­lu­stängs­te oder des Ver­lus­tes. Wenn man diese nicht immer of­fen­sicht­lich be­glei­ten­den Quel­len be­wusst be­trach­tet, er­öff­net sich eine neue, phi­lo­so­phi­sche Le­bens­wei­se.Lei­der wird eben die­ses Ge­spräch zu sel­ten ge­führt und so blei­ben die ver­schie­de­nen Aspek­te der Hei­mat un­sicht­bar. Vor allem jetzt, wo uns welt­wei­te Kri­sen ge­gen­über­ste­hen, sowie die Glo­ba­li­sie­rung in Ver­bun­den­heit mit der Ver­brei­tung des In­ter­nets, ver­su­chen sich die Men­schen ab­zu­schot­ten und zu­rück­zu­keh­ren in das Be­kann­te. Die Angst vor dem Ver­lust der Si­cher­heit und­der Zu­ge­hö­rig­keit ver­brei­tet sich ra­sant. Genau dies führt zur Bil­dung von klei­ne­ren ex­tre­men Grup­pen, die durch po­li­ti­sche, so­zi­a­le oder auch an­de­re Fak­to­ren ver­bun­den sind. So zer­bricht un­se­re Welt in op­po­nie­ren­de Frag­men­te, die ge­gen­ein­an­der ar­bei­ten.Die­ses Phä­no­men kann man in Ame­ri­ka an­schau­lich be­trach­ten. Die li­be­ra­len und kon­ser­va­ti­ven Mei­nungs­bil­der kon­kur­ren­zie­ren mit­ein­an­der. Oft wird schon eine po­li­ti­sche Hal­tung mit in die Wiege ge­legt. Kin­der aus die­sen Haus­hal­ten wach­sen mit gros­sem Miss­trau­en ge­gen­über der op­po­nie­ren­den Seite auf. Die Tren­nung der Be­völ­ke­rung auf­grund die­ser zwei Merk­ma­len ist in den USA mar­kant und mit viel Hass ver­bun­den. Wie Pin­gu­i­ne auf aus­ein­an­der­bre­chen­den Eis­schol­len rü­cken wir näher zu­sam­men, an­ge­sichts der dro­hen­den Auf­lö­sung bis­lang be­kann­ter und si­cher­heits­ge­ben­der Gren­zen. Diese Trans­for­ma­ti­on, die wir durch­lau­fen in der Mo­der­ne, dem In­ter­net Zeit­al­ter, be­ein­flusst die bis­he­ri­ge Wahr­neh­mung von Hei­mat auf allen Ebe­nen. Vie­len fällt es schwer sich den ra­san­ten Ver­än­de­run­gen an­zu­pas­sen und ihr Si­cher­heits­ge­fühl zu ga­ran­tie­ren. Somit ste­hen sie vor einem Hei­mat­ver­lust, mit dem sie nicht um­ge­hen kön­nen. Al­lein schon durch das Be­wusst­sein dar­über, warum ein Mensch in sol­che Mus­ter der klein­ka­rier­ten Tren­nun­gen ver­fällt, würde es bes­ser ge­lin­gen eine Ge­mein­schaft zu bil­den, die über eine Fa­mi­lie oder gar ein Dorf hin­aus­geht. Man kann sich dem Auf­bau einer neuen Hei­mat zu­wen­den, auf einer Ebene, die einem zu die­sem Zeit­punkt zu­gäng­lich ist. Es er­öff­net die Mög­lich­keit sich über­all eine Hei­mat zu schaf­fen, aus­ge­nom­men von Orten mit präg­nant ein­schrän­ken­den, ex­ter­nen Fak­to­ren. Mar­tin Hei­deg­ger be­schreibt die­ses Phä­no­men als ein an die Welt ver­fal­len sein. So pas­siert eine stän­di­ge Be­we­gung vom Un­zu­hau­se sein weg, in die sinn­ge­deu­te­te und da­durch leb­ba­re Welt, das Zu­hau­se. Es ist die Flucht vor der be­ängs­ti­gen­den Wahr­heit, ins nichts der Welt hin­aus­ge­setzt zu sein, was unser Ur­zu­stand be­schreibt. So be­ginnt man sich zum Selbst­schutz zu ob­jek­ti­vie­ren; er be­schreibt es als ein ans man ver­fal­len. Es ist ein­fach, einen Satz aus­zu­spre­chen, der mit einem man als Sub­jekt funk­tio­niert. Es nimmt uns je­doch, die Ver­ant­wor­tung, die jeder für sein ei­ge­nes Leben trägt. Denn nur du kannst und musst dein Leben leben, diese Auf­ga­be kann dir nie­mand ab­neh­men.

Wir be­nut­zen das man also, um die­ser­Je­mei­nig­keit­zu ent­flie­hen. Es ist ein­fa­cher als sich wirk­lich mit dem Un­zu­hau­se, wie auch dem Zu­hau­se sein aus­ein­an­der­zu­set­zen.Doch auch wenn das er­schre­cken­de Be­wusst­sein die­ser Fak­to­ren, die das Leben dik­tie­ren, erst zu einer Über­for­de­rung führt und einem Raus­wurf aus der von uns leb­bar ge­mach­ten Welt, dem Zu­hau­se, er­öff­net einem die­ser Ein­blick in das Un­sicht­ba­re eine ganz neue Form von Hei­matei­ne Form, die we­ni­ger ge­müt­lich ist, doch der ab­so­lu­ten Wahr­heit un­se­rer Welt nä­her­kommt und somit in jeder Le­bens­la­ge ein Zu­hau­se dar­stel­len kann, so­bald man sie er­kannt und ge­lernt hat mit ihr um­zu­ge­hen und sie zu schät­zen.


19. Mai 2023, 12.36 Uhr

Editorial Ausgabe 1

Liebe Leser:innen der ers­ten Aus­ga­be von HEIP

Je­mand sagte neu­lich: „stän­dig wird s’Ap­pe­zell als to­ta­li Idyl­le ver­kul­tet, debii isch meis­tens schlecht Wet­ter oder es stinkt noch Gülle.“ Sind sie auch die­ser Mei­nung? Oder bren­nen Ihnen be­reits­die Idyll-hoch­hal­ten­den Ge­ge­n­ar­gu­men­te unter den Nä­geln? Wo füh­len sie sich am meis­ten Zu­hau­se? Wäre Hei­mat als Ge­wäs­ser eher ein ste­he­des oder ein flies­sen­des? Wür­den Sie lie­ber für eine Woche in der Ofe­loch­schlucht­woh­nen oder in einem Stahl­nest im Dachei­nes Gross­städ­ti­schen Bahn­hofs? Wohin wür­den sie Mor­gen aus­wan­dern, wenn sie müss­ten? Ist ihnen eine be­stimm­te Spra­che nahe, ob­wohl Sie sie nicht ver­ste­hen? Füh­len sie sich wohl auf Bau­stel­len*? Mögen sie lie­ber den Ge­ruch von aus­ge­lau­fe­nem Ben­zin oder den von sich an­bah­nen­den Wild­schwei­nen(an­geb­lich: wie Maggi)? Löst der Be­griff Hei­mat bei Ihnen eher Freu­de, Angst, Nost­al­gie, Scham, Stolz oder Gleich­gül­tig­keit aus? Oder etwas ganz an­de­res?

Wir wür­den gerne über dies und noch vie­les mehr in einen Di­a­log kom­men–­schrift­lich, ana­log und di­gi­tal(hier), aber auch vor Ort, im um­strit­te­nen Idyll Teu­fen.Wir sind eine tem­po­rär ins Leben ge­ru­fe­ne Re­dak­ti­on, be­ste­hend aus Jo Glaus und Julia Kubik, und wer­den die Kul­tur­lands­ge­mei­ne 2023 zum Thema Hei­mat lau­fend schrei­bend Be­glei­ten.
Bis bald!
Julia Kubik
Re­dak­to­rin

*PS: pas­send dazu, das der Hei­mats­be­griff eine ewige Bau­stel­le ist, schmückt diese erste Aus­ga­be eine ei­gens für uns ku­ra­tier­te Bild­stre­cke vom Ins­ta­gram-Pro­fil IG Bau­ma­schi­ne

16. Mai 2023, 15.49 Uhr

Fachpublikation für heimatliche Fremdwahrung

Die Hei­mat­post ist so­wohl die Be­gleit­schrift zur Kul­tur­lands­ge­mein­de 2023, als auch ein Sam­mel­be­cken für me­di­a­le Be­trä­ge aller Art, die zur hei­mat­li­chen Be­griffs­for­schung bei­tra­gen.

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