24. Mai 2023, 17.49 Uhr

Was schützt der Hei­mat­schutz über­haupt?

In­ter­view: Timo Züst

An der 113. Haupt­ver­samm­lung des Aus­serr­ho­der Hei­mat­schut­zes wähl­ten die Mit­glie­der eine neue Ob­frau: Irene Hoch­reu­te­ner. Die Kunst­his­to­ri­ke­rin ist seit 18 Jah­ren Teil des Vor­stands – und nun auch Prä­si­den­tin. An der Kul­tur­lands­ge­mein­de spricht sie über Bau­kul­tur. Und mit HEIP redet sie über Hei­mat-ge­füh­le, Stamm­tisch-Kri­tik und die Her­aus­for­de­run­gen der Ver­dich­tung.

Frau Hoch­reu­te­ner, was ist ei­gent­lich Hei­mat?

Eine phi­lo­so­phi­sche Frage.

Kommt drauf an, wie man sie be­ant­wor­tet.

Ich glau­be, Hei­mat ist in ers­ter Linie eine Emp­fin­dung. Zum 100-jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um des Aus­serr­ho­der Hei­mat­schut­zes im Jahr 2010 baten wir un­se­re Mit­glie­der um Fotos von ihrer «Hei­mat». Be­kom­men haben wir alles Mög­li­che: eine Katze auf einem Fens­ter­sims, ein Kiosk, ein klas­si­sches Ap­pen­zel­ler­haus, ein Ka­chel­ofen. Hei­mat im Sinne des Hei­mat­schut­zes be­ruht auf einem Kon­sens, be­tref­fend einer iden­ti­täts­s­tif­ten­den Kul­tur, einer Bau­kul­tur im Spe­zi­el­len.

Was wür­den Sie fo­to­gra­fie­ren?

Aus mei­ner Optik als Ob­frau des Hei­mat­schut­zes würde ich in eine Streu­sied­lung hin­ein fo­to­gra­fie­ren. Im Ide­a­l­fall wäre auf dem Foto ein altes Ap­pen­zel­ler­haus und ein neues, das die tra­di­ti­o­nel­le Bau­wei­se auf­greift und neu in­ter­pre­tiert, zu sehen.

Damit hät­ten wir den ers­ten Teil des Wor­tes «Hei­mat­schutz» kurz de­fi­niert. Was ist mit «Schutz»? Müs­sen wir un­se­re Hei­mat wirk-lich schüt­zen?

Davon bin ich fest über­zeugt.

Warum?

Ich spre­che hier na­tür­lich in ers­ter Linie von der Bau­kul­tur. Da braucht es einen ge­wis­sen Schutz vor mo­ne­tä­ren und in­di­vi­du­a­lis­ti­schen Mo­ti­ven. Gäbe es kei­nen Schutz, wür­den wir un­se­re Land­schaf­ten nach und nach ver­lie­ren.

Ur­sprüng­lich war der Hei­mat­schutz auch als Na­tur­schutz-or­ga­ni­sa­ti­on ge­grün­det wor­den. Spielt das noch eine Rolle?

Na­tür­lich. Hei­mat be­in­hal­tet immer auch die Land­schaft, die Natur und das Brauch­tum. Der Hei­mat­schutz ar­bei­tet heu-te mit den ei­gen­stän­di­gen Fach­ver­bän­den zu­sam­men. Mit Pro Na­tu­ra ver­kau­fen seit 1946 den Schog­gi­ta­ler. In die­sem Jahr geht der Erlös in die För­de­rung der Na­tur­viel­falt vor der Haus­tür. Die Trach­ten­ver­ei­ni­gung Was schützt der Hei­mat­schutz über­haupt?ging 1926 aus der Trach­ten- und Volks­lied­kom­mis­si­on des Hei­mat-schut­zes her­vor. Die Trach­ten­stu­be Teu­fen fei­er­te un­längst ihr 25 Jahr Ju­bi­lä­um. Die Raum- und Land­schafts­pla­nung ist nach wie vor ein Kern­the­ma. Und die­ses ist eng ver­bun­den mit der Nach­hal­tig­keit. Wir ste­hen voll hin­ter der Ener­gie­stra­te­gie des Kan­tons.

Teil die­ser Stra­te­gie ist die Nut­zung er­neu­er­ba­rer Ener­gi­en – zum Bei­spiel Wind. Wie denkt der Hei­mat­schutz über die Idee von Wind­rä­dern auf der Wal­degg?

Dazu kann ich noch nicht viel sagen. Die Be­ur­tei­lung von Wind­kraft-Pro­jek­ten ge­hört nicht zu mei­ner Kern­kom­pe­tenz. Wir wer­den uns des­halb si­cher auch mit den Na­tur­schutz­ver­bän­den ab­spre­chen und dann braucht es eine In­ter­es­sens­ab­wä­gung. Die für die Er­stel­lung eines Wind­ra­des not­wen­di­ge In­fra­s­truk­tur wie Fun­da­ti­o­nen, Stras­sen etc. soll­te man nicht un­ter­schät­zen. Das muss genau ge­prüft wer­den.

Wenn in­ner­halb der Bau­zo­ne und nach Vor­schrift ge­baut wird, ist die Bau­herr­schaft bei der Ge­stal­tung sehr frei. Bräuch­te es da eine an­de­re Hand­ha­bung? Oder ge­ne­riert das bloss zu viel Bü­ro­kra­tie?

Bü­ro­kra­tie ist wohl der falsche Aus­druck. Es braucht ein En­ga­ge­ment von den Ge­mein­den und ein Be­kennt­nis zur Bau­kul­tur. Teu­fen hat das FAOT – das ist schon viel. Ge­ra­de bei Pro­jek­ten aus­ser­halb der ge­schütz­ten Orts­bil­der könn­te die Be­ra­tung durch ein sol­ches Gre­mi­um ei­ni­ges be­wir­ken.

Si­cher haben Sie die Head­li­ne auch ge­le­sen: Eine Schweiz mit 11,4 Mio. Ein­woh­nen­den. Sie sol­len alle in den heu­ti­gen Bau­zo­nen Platz fin­den. Läuft es Ihnen da kalt den Rü­cken run­ter?

Nicht un­be­dingt. Ent­schei­dend ist hier das Raum­pla­nungs­ge­setz. Es legt fest, wie wo ge­baut wer­den soll. Bau­zo­nen eig­nen sich im Grund­satz für die Ver­dich­tung, die Land-wirt­schaft­zo­nen nicht. Die Er-schlies­sung des Streu­sied­lungs­ge­biets macht ei­gent­lich schon aus öko­no­mi­scher Sicht wenig Sinn. Da soll­te das Raum­pla­nungs­ge­setz nicht auf­ge­weicht wer­den. Und In­nen­ent­wick­lungs-kon­zep­te zei­gen re­gel­mäs­sig, dass die Dich­te in his­to­risch wert­vol­len Dorf- und Stadt­ker­nen in der Regel sehr hoch ist. Daher wer­den wir die Lö­sung für die dro­hen­de Woh­nungs­not nicht in den ge­schütz­ten Orts­bil­dern und nicht in den Streu­sied­lungs­ge­bie­ten fin­den.

Das klingt ein biss­chen nach Zwei­klas­sen-Ge­sell­schaft: Wenn man Glück hat, lebt man in einer Streu­sied­lung mit viel Platz. Sonst wird man «ver­dich­tet».

Das sehe ich über­haupt nicht so. Zum Glück sind wir Men­schen sehr un­ter­schied­lich: Die einen su­chen wirk­lich das Leben in der Streu­sied­lung. An­de­re schät­zen eine his­to­ri­sche Woh­n­um­ge­bung und wie­der an­de­re be­vor­zu­gen eine mo­der­ne Ei­gen­tums­woh­nung, die we­ni­ger Pfle­ge­auf­wand ver­spricht.

Da wären wir bei der «Kon­troll­funk­ti­on» des Hei­mat­schut­zes. Er ge­ni­esst nicht un­be­dingt den bes­ten Ruf. Oft wird von ihm als Ver­hin­de­rer ge­spro­chen. Spü­ren Sie viel von die­ser Kri­tik?

Ich nehme das ehr­lich ge­sagt nicht so wahr. Das gilt auch für meine Ar­beit bei der Denk­mal­pfle­ge, die die­sen Ruf ja teilt. Na­tür­lich: Wenn eine Bau­herr­schaft sich mit ihrem Pro­jekt wegen uns noch ein­mal aus­ein­an-der­set­zen muss, ist das im Mo-ment nicht ein­fach. Aber spä­ter sind sie uns auch oft dank­bar, weil das Pro­jekt deut­lich ver­bes­sert wer­den konn­te. Ich ver-mute, der Ruf der Ver­hin­de­rer stammt haupt­säch­lich von Stamm­tisch-Run­den. Dort spricht man halt eher sel­ten von den Er­folgs­ge­schich­ten.

Viel­leicht gibt man als Bau­herr­schaft auch nur un­gern zu, dass die An­sät­ze von «je­mand an­de­rem» zu einem bes­se­ren Re­sul­tat ge­führt haben.

Das ist mög­lich. Was bei die­ser Dis­kus­si­on oft ver­ges­sen geht, ist un­se­re kos­ten­lo­se Erst­be­ra­tung. Von ihr kann jeder pro­fi­tie­ren – inkl. einer all­fäl­li­gen Be­ge­hung vor Ort. Das ist eine tolle Dienst­leis­tung. Ein­spra­chen er­mög­li­chen es uns lei­der erst spät mit der Bau-herr­schaft ins Ge­spräch zu kom­men. Das­sel­be gilt für Pro­jek­te in der Bau­zo­ne, da schrei­ben wir kri­ti­sche Hin­wei­se zu­han­den der Bau­be­wil­li­gungs­be­hör­de. Damit ar­bei­ten wir mit an einer hoch­ste­hen­den Bau­kul­tur.

Ein ak­tu­el­les Thema des Aus­serr­ho­der Hei­mat­schut­zes sind die «neu­e­ren alten Bau­ten». Plum­pe Frage: Wurde nach 1930 über­haupt etwas ge­baut, das schüt­zens­wür­dig wäre?

In Aus­serr­ho­den viel­leicht etwas we­ni­ger als an­ders­wo (lacht). Nein, ernst­haft: Na­tür­lich gibt es Ge­bäu­de aus der Kriegs- und Nach­kriegs­zeit, die ar­chi­tek­to­nisch von gros­ser Be­deu­tung sind.

Viel­leicht den­ken wir in 100 Jah­ren auch an­ders über die «gru­si­gen» 60er- und 70er-Jahre-Häu­ser.

Das ist sehr gut mög­lich. Oft schen­ken wir die­sen Bau­ten wenig Be­ach­tung, so lange sie wie selbst­ver­ständ­lich hier ste­hen. Ein Bei­spiel wäre die Teuf­ner Post. Auch sol­che Funk­ti­ons­bau­ten haben durch­aus eine Ge­schich­te und tra­gen zum Orts­bild bei.

Ge­ne­rell wird heute aber schon eher ab­ge­bro­chen und neu ge­baut, statt in­ten­siv sa­niert.

Diese Ent­wick­lung macht uns Sor­gen. Wir fin­den es falsch, dass das Raum­pla­nungs­ge­setz den Er­satz­bau in der Land­wirt­schafts-zone ver­ein­facht hat. Na­tür­lich stimmt es, dass mo­der­ne Bau­ten im Un­ter­halt we­ni­ger Ener­gie ver­brau­chen. Aber dabei geht ver­ges­sen, dass ein be­acht­li­cher Teil der «Le­bens­emis­si­o­nen eines Hau­ses» be­reits beim Bau ent­ste­hen – an die 50 Pro­zent. Des­halb wei­sen his­to­ri­sche Häu­ser auch eine sehr gute Öko-Bi­lanz auf, nur schon wegen ihrer gros­sen Le­bens­dau­er. Und da die tra­di­ti­o­nel­len Häu­ser in un­se­rem Kan­ton aus Holz be­ste­hen, bin­den sie sogar noch CO2.

Also am bes­ten keine Neu­bau­ten?

Es wird immer Neu­bau­ten brau­chen. Ins­be­son­de­re im Hin­blick auf das Be­völ­ke­rungs­wachs­tum. Der Hei­mat­schutz ist nicht ge­ne­rell gegen neue Pro­jek­te – sie sind nötig und wich­tig. Es gibt viele Bei­spie­le für sehr gute und ar­chi­tek­to­nisch wert­vol­le Bau­ten, die in den letz­ten Jah­ren ent­stan­den sind. Aber bevor etwas ab­ge­ris­sen wird, soll­te genau hin­ge­schaut wer­den. Hier passt ein Zitat von Sa­lo­mon Schlat­ter (1858–1922), der 1922 für den Hei­mat­schutz das Büch­lein ‘Das Ap­pen­zel­ler­haus und seine Schön­hei­ten’ ver­fasst hat, doch sehr gut: «Prü­fet alles und be­hal­tet das beste.»