24. Mai 2023, 17.55 Uhr

Wir soll­ten auf­hö­ren mit einem Hei­mat­be­griff, der aus­gren­zend ist

Text: Jo Glaus

Mögen Sie Ihren Namen? Haben Sie das Ge­­fühl, Sie wür­­den sich in einem an­­de­ren Vor­­na­­men stär­ker zu Hause füh­len? Was für einen Ein­fluss hat die Spra­che auf Bin­­dungs­­mög­­lich­kei­ten, wel­chen die Musik? Was ver­­­bin­­det, was zer­­teilt und wie kom­­men wir zu­ein­an­­der zu­rück?

Sol­che und wei­te­­re Fra­­gen wur­­den bei der Plat­t­­form 1 «Hei­­mat als Ge­­fühl und Iden­ti­tät» mit Yvonne Apiyo Brän­d­le-Amolo, Mat­t­hi­as Weis­haupt, Ho­­seyn A. Zadeh und Peter Sur­­ber be­han­­delt.

Den Namen zu mögen, ist schwie­­rig, wenn nie­­mand ihn rich­tig aus­­spre­chen kann. (Lek­tü­ren-Tipp: Das Kin­­der­­buch «Chry­san­the­mum») Er läuft einem vor­­aus, das Kul­tur­­gut her­aus­schrei­end. Man kann ihm nicht aus­­wei­chen. Darum ist es wich­tig sich darin wohl und hei­­misch zu füh­len.

Alle Be­tei­­lig­ten der Dis­­kus­­si­on tra­­gen meh­re­­re Namen. Die von Kin­­dern ver­­pat­­ze Ver­­­si­on und Ab­­ge­­kürz­ten Mit­­tel­na­­men, der alte Pfa­­di­na­­me «Kaa» nach der Schlan­­ge aus dem Dschun­­gel­­buch, und die vie­len ver­­­schie­­de­­nen, aus den un­­ter­­schie­d­­li­chen kul­tu­rel­len Hei­­ma­ten.

Yvonne ist aus Liebe in die Schweiz ge­­kom­­men und aus Liebe in der Schweiz ge­b­lie­­ben. Trotz allen Hin­­­der­­nis­­sen hat sie sich einen Weg ge­­bahnt und ist Heute tätig als Ge­­mein­­de­rä­tin, in­­ter­­kul­tu­rel­le Me­­di­a­to­rin und Ku­ra­to­rin.

Was ihr das Leben in der Schweiz zu be­­ginn er­leich­ter­te: Sie hat Jo­­deln ge­­lernt. So konn­te sie die Brü­­cke zu der ihr frem­­den Kul­tur über ein ver­­trau­tes Me­­di­um schla­­gen und Ähn­­lich­kei­ten zwi­­schen Schwei­­ze­ri­­scher und Ke­­ni­a­­ni­­scher Kul­tur ent­­de­­cken.

Im Stamm der Luo (ni­to­­lisch­­spra­chi­­ge Eth­­nie am Vic­to­ri­a­­see) wer­­den die Men­­schen mit ver­­­schie­­de­­nen be­­deu­tungs­­­sta­r­ken Namen be­­nannt. Bei ihr ist einer davon Ro­­set­ta, nach der Rock n’ Roll Ikone, wel­che Gren­­zen über­­­schritt und Ba­r­rie­ren nie­­der­schmet­ter­te. Oder Yvonnes Lie­b­­ling; Apiyo, die Pio­­nie­rin, ge­erbt von ihrer Gross­mut­ter.

Die Viel­­zahl der Namen hat auch eine prak­ti­­sche Re­le­vanz, zum Bei­­spiel bei der (po­­ly­­ga­­men) Par­t­­ner­­su­che. Aus dem Namen kann man die fa­­mi­­li­ä­ren Ver­­häl­t­­nis­­se lesen, um zu ver­­­mei­­den sich mit Ver­­wan­d­ten zu li­ie­ren.

Ist es auch bei uns so, dass man aus einem Namen viel her­aus liest? Bevor man eine Per­­son ken­­nen­­ler­­net, gibt es schon eine erste Ba­r­rie­­re, wel­che zu ste­reo­­ty­­pi­­sie­ren­­den Schluss­­fol­­ge­run­­gen füh­ren kann.

Bei einem Job-In­­ter­view hat Yvonne eine sol­che Er­fah­rung ge­­macht. Im Wa­r­te­­zim­­mer wurde sie mit Brän­d­le, dem Nach­na­­men des Ex-Man­­nes auf­­­ge­ru­­fen und trotz auf­­­ge­­steck­ter Hand nicht wahr­­ge­nom­­men, weil sie ge­mäss den Wor­ten der Se­­kre­tä­rin «nicht wie eine Yvonne Brän­d­le aus­­­sieht.»

Die­­ser (nicht so) sub­­ti­le All­­tags­ras­­sis­mus ist keine Sel­ten­heit. Viele Men­­schen haben lei­­der die Ten­­denz, hart und schnell zu wer­ten. Sind sol­che, in klei­­ne Schub­la­­den ein­­sor­tier­te In­­­for­­ma­ti­o­­nen, ei­­gent­­lich gut fürs Gemüt?

Mat­t­hi­as Weiss­haupt, ein Schwei­­zer Ur­ein­woh­­ner und ehe­­ma­­li­­ger Aus­­­serr­ho­­der Re­­gie­rungs­­rat, be­kennt, dass das Ap­­pen­­zell keine spe­­zi­­fi­­sche Kul­tur pflegt, in wel­cher man an­­de­ren be­­son­­ders offen be­­geg­­net. Es sei die Ver­­ant­wor­tung der Po­­li­tik, diese Bil­­dungs­­­lü­­cken zu schlies­­sen und die In­­te­­gra­ti­on, wie auch die Be­tei­­li­­gung zu för­­dern. Die Tür zu einer an­­de­ren Kul­tur ist nicht ein­fach be­tret­­bar. Der Schlüs­­sel liegt nicht in der Hand einer Ein­­zel­­per­­son. «Wir sol­len auf­­hö­ren mit einem Hei­­mat­­be­­griff, der aus­­­gren­­zend ist»

Was könn­ten wir be­wir­ken, wenn wir den Be­­griff der Hei­­mat nicht mehr als po­­li­ti­­sier­te Waffe nut­­zen, son­­dern als Basis, um alle Bür­­ger*in­­nen der Welt mit ihren Ei­­gen­hei­ten zu ver­­ei­­nen? Klar ist: Dazu braucht es Lü­­cken­sch­­lies­­ser*in­­nen und Brü­­cken­­bau­e­r*in­­nen.

Ho­­seyn A. Zadeh zeigt in einem ty­­­po­­gra­­phi­­schen Work­­shop, wel­cher schon an mehr als 30 in­­ter­na­ti­o­na­len und na­ti­o­na­len Ausstel­­lun­­gen stat­t­fand und nun auch an der Kul­tur­­lands­­ge­­mein­­de, eine neue Ver­­­bin­­dungs­­mög­­lich­keit des per­­sisch-ara­­bi­­schen mit dem la­tei­­ni­­schen Al­­pha­­bet.

Spra­che schafft Hei­­mat. Seine Flucht aus dem Iran und das An­­kom­­men in der Schweiz waren ge­prägt von Ver­­lust und Sehn­­sucht. Er er­­zählt von Stras­­sen und Wän­­den, die er ver­­­misst. Die aber gleich­­zei­tig so­wieo nicht mehr so exis­tie­ren, wie er sich an sie er­in­­nert. „Es gibt diese Stim­­mung dort nicht mehr, so wie ich sie kann­te.“ Auch seine Freun­­de ge­hö­ren nicht mehr in diese Stras­­sen in Te­he­r­an, die er kann­te und moch­te. Sie haben sich ver­­streut. Trotz­­dem hat er zum Be­­griff Hei­­mat eine po­­si­ti­­ven Ein­s­tel­­lung.

«Eine rich­ti­­ge Hei­­mat habe ich nicht. Es ist je­­den­falls kein fixer Ort. Ich bin dort zu­hau­­se, wo meine Füsse auf dem Boden ste­hen»

Alle drei ver­­ei­­nen auf ihre Art Kul­tu­ren und Men­­schen. In der Po­­li­tik, in der Musik, im Schrei­­ben und im Da­heim­­sein.

Hei­mat­ver­lust

ln einer Stu­­die von 2016 vom Stap­­fer­haus Lenz­­burg zeigt sich, dass mehr als die Häl­f­te der Be­frag­ten Per­­so­­nen füh­len, ihre Hei­­mat sei be­droht. lmmer mehr Men­­schen fol­­gen die­­ser Be­we­­gung der Ver­­lu­st­angst, die aus re­le­van­ten und oft un­i­­ver­­­sel­len Quel­len stam­­men, wie der Kli­­ma­wan­­del, po­­li­ti­­sche Kon­f­li­k­te, Krie­­ge, der Um­­­gang mit der Glo­­ba­­li­­sie­rung.

His­to­risch be­trach­tet, wurde das Thema schon oft durch­­­ge­­kaut. Schon immer gab es Kriegs­­f­lüch­ti­­ge oder aus re­­li­­gi­ö­sen Grün­­den Ver­­trie­­be­­ne. Durch diese Mi­­gra­ti­­onss­trö­­me wur­­den un­­­zäh­­li­­ge hei­­mat­lo­­se Men­­schen in ver­­­schie­­de­­ne Län­­der ge­schwemmt, die sich wie­­der­um von der An­we­­sen­heit die­­ser neuen Kul­tu­ren in ihrer Hei­­mat und na­ti­o­na­­ler Iden­ti­tät be­droht fühl­ten. Die­­ses Phä­no­­men ver­­­brei­tet sich über­­all. Die dar­aus re­­sul­tie­ren­­den Ak­ti­o­­nen wer­­den zum Bei­­spiel durch die Mo­­der­­ni­­sie­rungs­­the­o­rie ge­recht­­fer­tigt. So kann man die Schuld von sich wei­­sen und das Pro­blem auf die en­­do­­ge­­nen und zum Teil selbst­­ver­­­schul­­de­ten Fak­to­ren schie­­ben.

Darum gibt es Or­­ga­­ni­sa­ti­o­­nen wie Fron­tex; so stark ist das Be­­dür­f­­nis ist, mit allen Mit­­teln die Gren­­zen ge­schlos­­sen zu ha­l­ten. Auch wenn man den Blick zu an­­de­ren Kon­ti­­nen­ten wen­­det, er­kennt man die­­ses Mus­ter.

Der 45. Prä­­si­­dent der Ver­­ei­­nig­ten Staa­ten ge­wann mit dem Ver­­spre­chen, er wolle eine Mauer bauen, um die Im­­mi­­gra­ti­on auf­­­zu­ha­l­ten. Die­­ser Trend zieht sich über Län­­der, in denen immer mehr kon­­ser­va­ti­­ve und sogar rechts­­po­­pu­­lis­ti­­sche Kräf­te ge­win­­nen: Orban, der in Un­­­garn für zwei Jahre jeg­­li­che Mi­­gra­ti­on ver­­­bie­ten woll­te, Bra­­si­­li­ens Ausstieg aus dem UN-Mi­­gra­ti­­ons­­pakt unter der Lei­tung von Bol­­so­na­ro, John­­son der das Mi­­gra­ti­­ons­­sys­tem re­­for­­mier­te als Gross­­bri­tan­­ni­en aus der EU aus­­trat und noch viele mehr.

Die Angst vor Hei­­mat­­ver­­lust kann also, wenn sie in die falschen Hände gerät, als sta­r­ke po­­li­ti­­sche Waffe miss­­­braucht wer­­den. Ein Bei­­spiel für diese Si­tua­ti­on ist die Durch­­­set­­zung des Du­b­lin Ab­­kom­­mens der EU im Bezug zur tür­ki­­schen Re­­gie­rung. Die Tür­kei solle, als eines der wich­tigs­ten Tran­­sit­län­­der, Flücht­­lin­­ge bei sich be­ha­l­ten, so­dass sie bei einer An­fra­­ge für Asyl in ein an­­de­res eu­ro­pä­i­­sches Land zu­rü­ck­­ge­­schickt wer­­den kön­­nen. lm Ge­­gen­­zug dazu ver­­lan­­gen sie nebst Geld, auch Vi­sa­f­rei­heit in der EU. Letz­te­res wurde je­­doch nicht um­­­ge­­setzt. So er­höh­te sie den Druck, indem sie droh­te die Gren­­zen zu öff­­nen. Men­­schen, die alles hin­­ter sich ge­las­­sen und ver­­lo­ren haben wer­­den also gegen Geld und po­­li­ti­­sche Frei­­hei­ten ge­tauscht.

Wenn sie es doch bis in die Schweiz schaf­­fen, und wir diese Hei­­mat­lo­­sen, nach einem kom­p­li­­zier­ten und lang­wie­ri­­gen Pro­­zess, über un­­­se­­re Gren­­ze las­­sen, er­wa­r­ten wir eine voll­­kom­­me­­ne As­­si­­mi­la­ti­on von ihnen. Nur wenn sie ihre alte Iden­ti­tät, Kul­tur und somit den Rest ihrer Hei­­mat los­las­­sen, ge­wäh­ren wir ihnen, sich nie­­der­­zu­las­­sen. Meis­tens be­da­rf es zwei bis drei Ge­­ne­ra­ti­o­­nen, um über­­haupt wie­­der Wur­­zeln zu schla­­gen. Die meis­ten Län­­der haben eine man­­geln­­de Fä­hig­keit, mit den Kon­­se­quen­­zen von Wan­­de­rungs­­­be­we­­gun­­gen und den damit ein­her­­ge­hen­­den frem­­den sprach­­li­chen, so­­zi­a­len und kul­tu­rel­len Ele­­men­ten fer­tig zu wer­­den.

Wenn sich die Grup­­pe der Men­­schen, die kul­tu­rell an­­ders ver­­or­tet sind, ver­­­grös­­sert, fühlt man sich fremd in der Ei­­ge­­nen Hei­­mat, diese Grup­­pen tei­len das Frem­d­­füh­len eben­­so, da sie sich nicht als an­­ge­nom­­men emp­­fin­­den. Hier ent­s­te­hen Span­­nun­­gen, die wir auch in ak­tu­el­len The­­men, wie der Kopf­­tuch­­de­­bat­te, er­ken­­nen kön­­nen. Ag­­gres­­si­­ve Er­­schei­­nun­­gen, wie "Gi­lets jau­­nes" (Gelb­wes­ten) sind eben­­so das Re­­sul­tat sol­cher Ent­wick­­lun­­gen, wie An­­ge­hö­ri­­ge ver­­­schie­­de­­ner Re­­li­­gi­o­­nen oder auch be­nach­tei­­lig­te Kul­tu­ren, die sich nicht mehr ver­­­stan­­den füh­len und zu ra­­di­­ka­len Grup­­pen wer­­den.

Diese Hei­­mat­lo­­sig­keit er­eig­­net sich nicht nur auf der geo­­gra­­phi­­schen Ebene. Es kann auch ein­fach ein Ver­­lust des Zu­­ge­hö­­rig­keits­­ge­­fühls sein. Das Tempo un­­­se­­rer di­­gi­ta­­li­­sier­ten Ge­­sell­­schaft führt dazu, dass die An­­zahl der be­trof­­fe­­nen Men­­schen zu­­nimmt.

Die Frage, wie wir als Ge­­sell­­schaft damit um­­­ge­hen wol­len, bleibt je­­doch un­­­be­ant­wor­tet. Um uns die­­ser an­­zu­nä­hern, müs­­sen wir uns in­­ten­­siv mit der The­­ma­tik des Hei­­mat­­ver­­lus­tes aus­­ein­an­­der­­set­­zen. Ein An­fang in die­­sem Pro­­zess kann das Ge­spräch über Hei­­mat und ähn­­lich re­le­van­ten Be­­grif­­fen sein.

Das Ein­wan­­de­rungs­­­sys­tem und der Um­­­gang mit Im­­mi­­gran­ten sind noch of­­fe­­ne Bau­s­tel­len, hin­­­sicht­­lich der Schaf­­fung einer neuen Hei­­mat. Es gilt, aus die­­ser Viel­falt zu schöp­­fen und ihre In­­no­va­ti­on ge­­ni­es­­sen.

Als ge­­gen­­über­­­zu­­set­­zen­­des Bei­­spiel: Ka­na­­da sieht Mi­­gra­ti­on als Chan­­ce und ver­­­sucht, das Zu­wan­­de­­rer-Po­ten­ti­al ma­­xi­­mal zu nut­­zen. Somit wird es zu einem bun­ten mul­ti­­kul­tu­rel­len Land, das vie­len Men­­schen eine Hei­­mat bie­ten kann. Dass es als mul­ti­­kul­tu­rel­les Ein­wan­­der­er­­land vor­­­bild­­lich funk­tio­­niert, gibt uns eine neue Per­­spek­ti­­ve. So wird es mög­­lich, ohne un­­­über­­win­d­­ba­­re ex­ter­­ne Hür­­den über­­all eine Hei­­mat zu schaf­­fen.

Denn jeder Mensch hat ein Recht auf Hei­­mat.